Objekt der Forschung und Begierde

Licht meines Lebens, meine Sünde, meine Seele „Mein Roman“. Die Ringvorlesung zur Königsklasse der Gattungen im Spannungsverhältnis zwischen Forschung und Subjektivität. Von Lisa Lasselsberger

Keine leichte Kost: Ulla Haselstein stellt "The Making of Americans" vor. Foto: Lisa Lasselsberger
Keine leichte Kost: Ulla Haselstein stellt “The Making of Americans” vor. Foto: Lisa Lasselsberger

Im Laufe eines literaturreichen Lebens findet ihn fast jeder Leser: den einen, „seinen“ Roman. Ein literarisches Werk, mit dem wir uns auf beinahe libidinöse Weise verbunden fühlen, das uns auf individuellen, intimen und irrationalen Ebenen berührt. Gänzlich ohne wissenschaftliche Aufarbeitung evoziert er in uns die berauschten Worte Fausts: „War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb, die mir das innre Toben stillen, das arme Herz mit Freude füllen?“ Wie aber kann eine öffentliche, akademische Auseinandersetzung gelingen, deren Titel – „Mein Roman“ – so dezidiert individuell und possessiv anmutet? Drängt die Liebe zum Favoriten den Leser nicht dazu, selbigen von einer wissenschaftlich sezierenden Analyse abzuschotten?

In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich die Ringvorlesung „Mein Roman“, welche vergangenen Dienstag Ulla Haselstein, Professorin für Literatur am JFK-Institut, mit einem Vortrag zu Gertrud Steins „The Making of Americans“ eröffnete. Wöchentlich sind Literatur- und Geisteswissenschaftler geladen, „ihren“Roman vorzustellen. Doch was zeichnet „meinen Roman“ nun aus und worin liegt der Anreiz für die Zuhörer, die anlässlich der Eröffnung die Hörsaalreihen füllten? Gilt das Interesse der Gattung, dem spezifischen Werk oder dem akademischen Umgang der Sprecher mit dem heiligen Gral ihrer Privatbibliothek?

Mein Roman und mein Forschungsgegenstand – amour fou und amour raison?

Prinzipiell beabsichtigt die Vortragsreihe nicht die Rehabilitierung einer Gattung, welche sich dank ihres regenerativen Charakters ohnehin bester Gesundheit erfreut. Ebensowenig stellt sie die Frage nach dem Zweck des Romans. Der Fokus der Vorträge liegt vielmehr auf einzelnen Werken, erweitert durch die brisante Komponente der Subjektivität des Lesers, der hier zugleich Forscher ist.

Das Objekt der literarischen Begierde kann sowohl anhand von subjektiven als auch objektivierbaren Aspekten erläutert werden. Der erste Vortrag setzte einen expliziten Schwerpunkt auf zweiteres. Epochenspezifische Bedeutung, wissenschaftlicher Gehalt und Wirkungsgeschichte des Werkes überschatteten etwaige irrationale Motive der Wahl.

Der Erzähler ist tot, lang lebe der Leser

Gleich zu Beginn gesteht Ulla Haselstein jedoch auch die schiere Unlesbarkeit des monströsen Monolithen Gertrude Steins. Ein köstlicher Versprecher veranschaulicht das ambivalente Leseerlebnis: „Man liest, ist verwirrt und bricht das Leben ab.“ Die Botschaft ist eindringlich: „MeinRoman“ wird nicht mit unvermitteltem Vergnügen assoziiert. Dieses entsteht erst aus dem Ringen mit der Materie.

Doch weshalb unterwirft sich der Leser voll Freude der autoritären Knechtung eines fiktiven Erzählers? Weil sich gerade in vielen der vorzustellenden Romane dem Leser eine Möglichkeit der Autonomie eröffnet. Da jene meist eine traditionelle Erzählstruktur verweigern, wirft sich der Leser notgedrungen selbst zum Herrscher auf. Er schafft seinenRoman, da der Erzähler nicht länger für Kohärenz und Klarheit bürgt. Der meist instabile Protagonist kann daher nur auf einen äußerst stabilen Leser hoffen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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