„Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach“

Für sein Buch „Herkunft“ erhielt Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis. Auch wenn es um die Vergangenheit geht, ist die Gegenwart stets präsent, schreibt Leon Holly.

Foto: Leon Holly, Illustration: Joshua Leibig, Bildmontage: Elias Fischer

Im Osten Bosniens liegt, von grünen Hügeln umschlungen, das beschauliche Städtchen Višegrad. Durch Višegrad zieht ein Fluss, Schauplatz für Ivo Andrićs berühmten Roman „Die Brücke über die Drina“, der die Stadt weltweit bekannt machte. Jüngst begab sich auch der deutsche Schriftsteller Saša Stanišić für seinen Roman „Herkunft“ zurück an seinen Geburtsort, auf der Suche nach verblassenden Familienerinnerungen und mit dem ewigen Zufall der Geburt im Hinterkopf. Sein Vater serbisch, die Mutter bosniakisch-muslimisch, war er „ein Kind des Vielvölkerstaats“ Jugoslawien – zumindest solange der sozialistische Kitt hielt.

Erinnerungen an den Krieg

Denn als das 20. Jahrhundert dämmerte, wurde das zerfallende Jugoslawien zum Schauplatz grausamer Verheerungen. „Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach.“ In seiner Geburtsstadt dezimierten serbische Truppen und Paramilitärs die bosnische Bevölkerung, plünderten, vergewaltigten, mordeten. „Unbeschwert ist an Višegrad für mich kaum ein Ort mehr“, gesteht Stanišić, dessen Familie 1992 nach Heidelberg flüchtete, nachdem ein Polizist seiner Mutter gesteckt hatte, den Muslim*innen gehe es hier bald an den Kragen. Stanišić streut die Erinnerungen an die Verbrechen im Roman als Fragmente ein, nicht häufig, aber dafür umso bedeutsamer. Etwa, wenn er im Regal der Nachbarn in Bosnien heute noch Fotos der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić erspäht.

Gut dreißig Jahre ist es her seit Slobodan Milošević – letzter Machthaber des moribunden Jugoslawiens – die Rückbesinnung auf Nation und Ethnie zur neuen Vision erhob. Stanišić schlägt immer wieder den Bogen zum Chauvinismus und Grenzfanatismus der Gegenwart: „Müssten wir jetzt fliehen, wären also die Zustände an den EU-Außengrenzen 1992 so restriktiv gewesen wie heute, würden wir Heidelberg nie erreichen. Die Reise wäre vor einem ungarischen Stacheldrahtzaun zu Ende.“

Der Zugang zur Sprache

Es sind besonders die Erinnerungen, die seiner dementen Großmutter entgleiten, die Stanišić einfangen möchte. Das ist natürlich ein persönliches und gefühlsreiches Unterfangen, doch Stanišić gelingt es, dabei nicht ins Sentimentale abzudriften. Im Gegenteil, er wendet sich gegen jegliche „Jugo-Nostalgie“, gegen den Impuls, die Jahrzehnte unter Marschall Titos Regiment zu verklären und überhöhen. Den offiziellen Parolen von Partei und Pionieren stellt er die Alltagswirklichkeit seiner Familie gegenüber.

Stanišićs Schreibstil mag zum Motiv des erinnernden Rückblicks passen – kurze Sätze, eingeschobene Fragmente, aufleuchtende Assoziationen – doch einem wirklichen Lesefluss sind die vielen Unterbrechungen eher abträglich. Sprachraffiniert zeigt sich Stanišić dennoch, wenn er die Wirrungen von Geburt, Flucht und Ankommen, von Verortung, Entortung und Neuverortung erkundet. Er lässt seine bosnische Herkunft auf die neue Wirklichkeit in Deutschland prallen, erzählt wie er über die ersten selbstgeschriebenen Gedichte einen Zugang zur deutschen Sprache fand. Die deutsche Sprache, andererseits, gewann so einen ihrer eloquentesten Handhaber.

Autor*in

Leon Holly

On the write side of History. @LeonHolly_

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