FURIOS gafft: Reality-TV Charlottenburg

Wozu RTL einschalten, wenn sich die spannenden Geschichten schon in der Wohnung gegenüber ereignen können?! Anabel Rother Godoy mit dem ersten Teil unserer Ferienserie.

Tanzt der Nachbar gegenüber nackt im Zimmer, ist das auch ein Hoffnungsschimmer. Bild: Pixabay

Ich spähe gerne aus dem Fenster. Ich mag es vom Fahrrad aus in die warm erleuchteten Stuben Berlins zu blicken, mir Inneneinrichtungen anzusehen und kleine Geschichten zu den Bewohner*innen auszudenken. Diese Gewohnheit hat mir schon einige Fast-Unfälle beschert. Aber nicht nur vom Fahrrad aus verfolge ich mein Hobby. Wo lässt es sich denn leichter gaffen, als aus der eigenen Wohnung und in die Fenster der Nachbar*innen hinein?

Das Gaffen liegt in der Natur des Menschen. So ist es schon seit Anbeginn der Zeit. Die Neugier über das Tun und Lassen unserer Mitmenschen steckt selbst im größten RTL-Verachter. Wer sich die Taten der anderen Homo Sapiens mal genauer anschaut, gewinnt vieles. Man kann sich überlegen fühlen und darin wähnen, man habe das eigene Leben im Vergleich ja doch ziemlich im Griff. Man kann Neid empfinden, der einen anspornt sich selbst zu verbessern. Aber allem voran wird einem bewusst, dass wir nicht allein sind, dass wir in einer Gesellschaft leben und das menschliche Leid millionenfach geteilt wird.

Teure Autos, Kapuzenpullover und die Polizei

Seit ich mich erinnern kann, wohnt im Neubau gegenüber von mir in Charlottenburg eine Gruppe Menschen, von denen ich nicht weiß, ob sie verwandt, befreundet oder verfeindet sind. Manchmal leben auch kleine Kinder dort, manchmal nicht. Im Sommer sind die Fenster offen und fröhliche Musik ertönt. Sie scheinen Reggaeton zu mögen.

Über die Jahre meiner verstohlenen Blicke hinweg hat sich bei mir immer mehr das Gefühl eingeschlichen, dass meine Nachbar*innen nicht ganz im Bereich der Legalität agieren. Dinge fielen vom Fenster in die Hände von Männern, die mit hochgezogener Kapuze ans Haus kamen und sofort wieder verschwanden. Als ich nachts nicht schlafen konnte, sah ich die Frauen oftmals zu später Stunde in teure Autos steigen und davonbrausen. Mein letzter Anhaltspunkt ist, dass die Polizei schon des Öfteren da war. 

Ich klinge jetzt wahrscheinlich arg nach Tante Karin, die sich Tag und Nacht über alles aufregt und alle Kellner*innen zum Zittern bringt. Dann versteht man mich aber falsch: Ich verurteile meine Nachbar*innen nicht. Sie haben genauso das Recht, in meiner Straße zu wohnen, wie ich und wie sie ihr Geld verdienen, geht mich ja nichts an. Wenn ich etwas gegenüber diesen lebensfrohen Menschen empfinde, dann ist es vielleicht Dankbarkeit. Dankbarkeit darüber, dass sie mir auch in meinen langweiligsten Momenten, wenn ich eigentlich lernen sollte, eine interessante Show bieten. Ob gewollt oder nicht.

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