Verarbeitung einer Pandemie in drei Akten

AnnenMayKantereit verarbeiten im neuen Album „12“  die Veränderungen durch die Corona-Pandemie und werfen einen Blick in die Vergangenheit und Zukunft. Leonie Beyerlein bleibt als nachdenkliche Hörerin zurück.

Henning May, Christopher Annen und Severin Kantereit. Pressefoto: Martin Lamberty

Bei AnnenMayKantereit scheiden sich die Geister. Die Texte der Kölner Band sind oft melancholisch und nachdenklich, die Melodien schwanken zwischen energiegeladenem Schlagzeug und traurigem Klavier. Manche finden, dass Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit mit ihrer Musik den Zahn der Zeit treffen und einer ganzen Generation junger Menschen aus der Seele sprechen. Andere sehen sie als weinerliche, in Selbstmitleid badende Jungspunde. Mit ihrem neuen Album „12“ stärken sie wohl beide Lager.

Ohne große Ankündigung oder Single veröffentlichen AnnenMayKantereit am 16. November ihr drittes Album. „12“ soll am Stück gehört werden, die Band möchte kein bestimmtes Lied ins Rampenlicht stellen. Tatsächlich erschließt sich das Konzept der Platte – die momentan noch nicht einmal als solche verfügbar ist, sondern nur in digitaler Version auf Streaming-Portalen angeboten wird – schon beim ersten Anhören.  

„12“ ist die Verarbeitung der Corona-Pandemie und der begleitenden Alltagsumbrüche, die uns alle treffen; Musiker*innen wie die drei Kölner ganz besonders. Dabei betten sie die vielen Gedanken, Geschehnisse und Veränderungen in den Fluss der Zeit; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: „So wie es war, so wird es nie wieder sein“ ist eine Zeile, die sich durch das gesamte Album zieht und zu Beginn wie ein Mantra wiederholt wird.

Das Album lässt sich in drei Akte unterteilen. Die Songs des ersten Teils entstanden in den Anfängen der Pandemie. Sie spiegeln die Sorge um die vielen Veränderungen, die Ungewissheit und Überforderung wider, die im Frühjahr die gesamtgesellschaftliche Stimmung prägten. „Gegenwartsbewältigung“ ist nicht nur der Titel eines Liedes aus diesem ersten Akt, sondern gibt die gesamte Stimmung des Albums wieder.

Darauf folgt im zweiten Teil eine Reihe Songs, die sich mit den Lockerungen des Sommers beschäftigen, aber doch nie die Leichtigkeit vergangener Tage erreichen. „Spätsommerregen“ lädt mit lockeren Calypso-Beats zum Tanzen ein – und kommt doch nicht an „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ aus dem Vorgänger „Schlagschatten“ heran.   

Der dritte Akt ist eine Mischung aus den Gefühlen der beiden vorherigen Teile. Man hat sich mit der Situation abgefunden, schön ist sie nicht und noch lange nicht vorbei. So wie es wohl den meisten aktuell im „Lockdown-Light“ geht. 

Keine Zeit für Optimismus

Insgesamt bleibt die Stimmung düster, die Lieder ruhig und nachdenklich. Ein optimistischer Blick auf die Zukunft wird nicht gezeichnet, auch wenn das Album im „Outro“ mit einer federleichten Melodie endet. Das Bild, das die Kölner hier zeichnen, ist sowohl wehleidig als auch realistisch. Mit ihren Texten zeigen sich AnnenMayKantereit erneut als Sprachrohr für die Gedanken und Gefühle vieler junger Menschen, die sich im Zuge der Kontaktbeschränkungen besonders zurücknehmen müssen. Doch zugleich ist das anhaltende Lamentieren anstrengend. Das Lied „Ganz egal“ wirkt mit seinem verliebten Text und seiner leichten Melodie wie ein Aufatmen zwischen den vielen bedrückenden Zeilen.

Musikalisch bleibt sich die Band treu mit ihrem ehrlichen Mix aus Gitarre, Klavier und rhythmischem Schlagzeug. Zugleich zeigt das Album eine neue Seite, die der besonderen Situation während des Entstehungsprozesses zu verdanken ist. Nur wenig wurde im Studio produziert, viele Tonaufnahmen entstammen Sprachnachrichten, die zwischen den Musikern verschickt wurden. In vielen Liedern erklingt Henning Mays markante Stimme gedämpft und wie aus der Ferne – doch dieser Stil passt zu der gesamten Atmosphäre, die das Album umgibt, und verleiht ihr Authentizität.

Ist „12“ der künstlerische Ausdruck der vergangenen Monate, nach dem sich alle gesehnt haben? Sehnt man sich überhaupt nach Liedern, in denen das Wort Corona vorkommt? So richtig abschalten kann man mit diesem Album nicht, auch wenn Lieder wie „Paloma“, dessen Text teils auf Spanisch ist, zum Träumen einladen. Vielmehr weckt die Platte wieder die unruhigen Gedanken und Emotionen vom Frühjahr. Es mag für die drei Musiker hilfreich sein, aus ihren Erfahrungen Kreativität zu schöpfen. Für den Rest der Welt kommt dieses Album aber zu früh, auch wenn die Freude unter den Fans groß ist. Die Historiker*innen der Zukunft werden der Band jedenfalls für dieses Zeitzeugnis der Corona-Pandemie noch danken.

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