Die Menschheit entwickelt sich weiter. Damit verbunden ist oft der Gedanke eines Fortschritts – doch was bedeutet das überhaupt? Von Marie Blickensdörfer und Leonie Beyerlein.
Die Welt um uns verändert sich stetig. Unsere Gesellschaft strebt nach Fortschritt. Kann das eine mit dem anderen gleichgesetzt werden? Der Duden definiert Veränderung als ein „Anderswerden„. Es handelt sich also – im Gegensatz zu Fortschritt, der eine „positiv bewertete Weiterentwicklung” meint – um einen neutralen Begriff.
Der Fortschrittsbegriff kam erstmals in der Renaissance auf, da sich Gedanken an die Zukunft zuvor nur auf das Jenseits beschränkten. Damals bedeutete Fortschritt eine Verschiebung des Welt- und Menschenbildes weg von Religion hin zu Rationalität und Vernunft. Doch schon wenig später wurde der Begriff „in der globalen Geschichte als machtpolitisches Instrument benutzt“, erklärt Nora Große von der Stabsstelle Nachhaltigkeit und Energie an der FU. Die Koordinatorin für Nachhaltigkeit in der Lehre bezieht sich hier auf den europäischen Kolonialismus. Die empfundene Überlegenheit als vermeintlich fortschrittliche Gesellschaft wurde zur Legitimation für die Unterdrückung anderer. Im Zuge der Industrialisierung wurde Fortschritt zunehmend mit technologischen Veränderungen und ökonomischer Produktivität verknüpft. Seitdem scheint unser Verständnis von Fortschritt untrennbar mit Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand verbunden.
Diesen Gedanken griffen auch Wissenschaftler*innen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Sie entwarfen eine Modernisierungstheorie, die die Entwicklung von Ländern untersuchen sollte. In den Wirtschaftswissenschaften führte das zu einem Wachstumsparadigma. Hier setzten westliche Institutionen und deren kulturelle Grundannahmen den Maßstab für das, was als modern und fortschrittlich gilt. In den Sozialwissenschaften schlug sich das in Theorien zur gesellschaftlichen Entwicklung nieder, deren Bezugsrahmen der globale Norden darstellt. Auch wenn diese Ansichten größtenteils als überholt gelten, wirkt die Vorstellung fort. Dabei sieht Fortschritt nicht überall gleich aus. Global betrachtet lassen sich verschiedene Verständnisse von Fortschritt ausmachen, was der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt als die Existenz ›multipler Modernen‹ bezeichnet. Moderne und Fortschritt werden verschieden interpretiert und gelebt. ,Traditionelles’ vermischt sich mit ,Modernem’ und bildet neue Konstrukte, die sich oft nicht in eine von beiden Kategorien einordnen lassen. Wie sinnvoll ist also eine solche Einteilung?
Die Schattenseiten des Fortschritts
Wie die Welt Fortschritt versteht, wird also maßgeblich vom globalen Norden bestimmt – ebenso wie die Auswirkungen des Paradigmas im globalen Wirtschaftssystem. Doch das industrielle Wachstum bleibt in seinen Folgen nicht auf einen lokalen Bereich beschränkt. Denn manche Länder profitieren offensichtlich mehr davon als andere. Fortschritt heißt nie Fortschritt für alle. Was Fortschritt ist und wem er zuteil wird, entscheidet sich an vielen Stellen noch immer im globalen Norden. Konkreter drückt es FU-Wissenschaftlerin Große aus: „Die globale Wirtschafts- und Investitionspolitik trägt strukturell dazu bei, dass wir am längeren Hebel sitzen und es den Ländern des globalen Südens schwer machen, voranzukommen, ihre eigenen Vorstellungen von Fortschritt oder Entwicklung weiterzuentwickeln und auch umzusetzen.“
Richtet man den Blick auf Deutschland, werden ebenfalls Unterschiede deutlich. So können beispielsweise global agierende Konzerne vom gegenwärtigen Wirtschaftssystem profitieren, während der Wohlstand weite Teile der Bevölkerung nicht erreicht. Auch in vielen Ländern des globalen Südens führt das Wirtschaftswachstum nicht zum Wohlstand aller, sondern verstärkt Ungleichheiten. Folgen davon sind gesellschaftliche Herausforderungen, wie erhöhte Kriminalität, was die Lebensumstände maßgeblich prägt.
Doch es gibt auch einige positive Veränderungen, wie Nora Große in Bezug auf die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen erläutert. „Mit diesen Zielen versuchen die UN seit 2015 eine globale nachhaltige Entwicklung voranzutreiben. Bei ihrer Formulierung wurden die Länder des globalen Südens stärker einbezogen und die Länder des globalen Nordens mehr in die Verantwortung genommen als beim Vorgängermodell – den Millennium Development Goals.“ Doch auch hier wird Kritik laut, dass die 17 Ziele global unrealistisch zu erreichen seien. Denn sie basieren weiterhin auf einem Wachstumsmodell im Sinne des globalen Nordens, das in sich ökologisch und sozial nicht zukunftsfähig sei.
„Unser System sollte nicht mehr nur von Effizienz getrieben werden, sondern auch von Suffizienz“, fordert Große. Damit ist die strukturelle Förderung einer ,genügsamen’, nachhaltigen Lebensweise gemeint, die zur Reduktion des Verbrauchs an natürlichen Ressourcen führt. Große findet: „Die Vorstellung eines unendlichen Wirtschaftswachstums hat ausgedient.“ Stattdessen sollten die Gesellschaft und nationale Regierungen einen stärkeren Fokus auf ein gutes Leben und das Wohlbefinden der Menschen legen.
Dieser Meinung ist auch Gerhard de Haan, Leiter des Institut Futur an der FU. Unter Fortschritt versteht er „die Verbesserung der Lebensqualität aller.“ Eine nachhaltige Lebensweise sieht er als notwendig an, um globale Gerechtigkeit und somit ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund der Klimakrise sei Fortschritt für ihn dabei nicht nur ein materieller Zuwachs an Dingen, wie es das verbreitete Verständnis suggeriere. „Fortschritt kann auch das Erhalten des Status Quo sein. Zum Beispiel in Bezug auf Biodiversität und den Artenerhalt.“ Manchmal könne sogar ein Rückgang Fortschritt bedeuten, beispielsweise beim Ressourcenverbrauch.
Der Blick in die Zukunft
An der FU lehrt und betreibt de Haan Zukunftsforschung. Diese setzt bei den Ergebnissen anderer Studien an: In Umfragen wie der Umweltbewusstseinsstudie des Umweltbundesamts geben die Teilnehmenden eine aktuelle Einschätzung ihres Lebens und des gesellschaftlichen Zustands ab. Außerdem nennen sie ihre Wünsche für ein zukünftiges gutes Leben. „Dabei gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was sich die Menschen wünschen und dem, was sie tatsächlich tun“, sagt de Haan. Beispielsweise möchten viele Deutsche mehr Biolebensmittel in Supermärkten, doch nur ein Bruchteil von ihnen kaufe sie bereits ein. „Hier setzt die Zukunftsforschung an. Aus den Wünschen der Befragten entwickeln wir mögliche Szenarien für die Zukunft.“
Beispielsweise im Bereich der schulischen Bildung, wo sich die Frage stellt, ob der Unterricht zunehmend digital stattfinden wird oder weiterhin primär analog. Unerwartete Ereignisse wie die Coronapandemie, die einen tiefgreifenden und plötzlichen Umbruch der gegenwärtigen Situation verursachen – sogenannte Wild Cards – können dabei nicht in die Forschung einbezogen werden. Daher können auch Zukunftsforscher*innen nur mutmaßen, welchen langfristigen Einfluss die Pandemie auf die Gesellschaft haben wird.
Die Zukunft bleibt also ungewiss. Veränderung ist unvermeidlich, aber wir können selbst bestimmen, wie sich unsere Gesellschaft und die Welt entwickeln sollen. Doch unsere Orientierung muss keinem Fortschrittsbegriff folgen, der so viele Bewohner*innen unserer Erde übersieht. Wir brauchen neue und nachhaltige Konzepte, die uns helfen, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Wie soll unsere Zukunft aussehen?
M.A. Zukunftsforschung – Das Institut Futur bietet Zukunftsforschung als Masterstudiengang an. Zugangsvoraussetzung ist neben Berufserfahrung, beispielsweise durch mehrere Praktika, eine Hochschulqualifikation. Jedes Wintersemester werden etwa 30 Bewerber*innen zugelassen. Absolvent*innen sind oft in Forschungs- und Beratungseinrichtungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tätig.
ABV Nachhaltigkeitsseminare – Im ABV-Bereich bietet die Stabsstelle Nachhaltigkeit und Energie Seminare zu verschiedenen Dimensionen von Nachhaltigkeit an. Marie hat eines ausprobiert und kann es nur weiterempfehlen, da es neben fünf Leistungspunkten auch viele spannende Infos sowie praktische Projekte gibt.