Das Selbsthilfedilemma

In der Coronapandemie wurde der Alltag vieler Menschen umgekrempelt. Auf der Suche nach Struktur und Inspiration griff Laura Kübler zu Motivationsbüchern. Was aber sind die Kehrseiten der Selbsthilfeindustrie?

Ein Tisch voller Ratschläge? Foto: Laura Kübler

Als Anfang 2020 die Coronapandemie auch in Deutschland ausbrach, wurde ein Großteil des öffentlichen Lebens in die virtuelle Welt verlegt: Arbeit, Uni, der Kontakt zu Freund*innen und Bekannten – all das fand nun von zu Hause aus statt. Das Leben im Homeoffice und ohne feste Struktur überrumpelte mich. Auf der Suche nach Motivation und Zeitmanagementtipps fing ich an, Selbsthilfebücher zu lesen. 

Das erste Buch, das ich mir zulegte, war The Miracle Morning von Hal Elrod. Eine YouTuberin hatte es in einem ihrer Videos empfohlen und mich reizte die Idee, früh aufzustehen und so viel wie möglich aus meinem Morgen herauszuholen. In nur sechs Schritten sollte das Leben leichter, schöner und entspannter werden. Und tatsächlich – ich stellte meinen Wecker eine Stunde früher und meditierte mich durch die Lockdown-Morgen. Weitere Bücher folgten, wie der Bestseller Atomic Habits von James Clear. Als ich dann im Sommer eine neue Wohnung gefunden hatte und der Umzug bevorstand, las ich Marie Kondos Magic Cleaning und mistete Kisten von Klamotten aus. 

Be productive and live your best life!

Obwohl die Bücher mir zunächst tatsächlich halfen, Struktur in mein Leben zu bekommen, traten mit der Zeit einige Nebenwirkungen auf. Ich verspürte den inneren Druck, immer produktiver und erfolgreicher sein zu müssen. So schreibt Elrod: „Every single thought, choice, and action is determining who we are becoming.“ Wenn jede kleinste Entscheidung also so viel zählte, war es dann nicht verwerflich, die Sportsession ausfallen zu lassen oder am Morgen auszuschlafen? Musste ich nicht jede Minute nutzen? Irgendwann war die Morgenroutine nicht mehr entspannend, sondern stressig. Wenn ich sie ausfallen ließ, verspürte ich Schuldgefühle. Statt also auf meine Bedürfnisse zu achten, arbeitete ich direkt nach dem Aufstehen eine Liste von To-dos ab. Ich befand mich in einer Sackgasse. 

Doch es gab noch weitere Schattenseiten: Zunächst einmal tricksen Leser*innen der Bücher das Gehirn aus. Während des Lesens entsteht irrtümlicherweise das Gefühl, schon etwas für die persönlichen Ziele zu tun. Dabei informieren Leser*innen sich nur darüber, wie sie ihr Leben verbessern könnten, legen aber keineswegs tatsächlich Hand an. Statt also an der Hausarbeit zu schreiben oder joggen zu gehen, verbrachte ich meine Zeit mit Lesen und lebte dabei in der Illusion, schon alles erreicht zu haben. 

Bodyshaming, Endlosschleife und Selbstzweifel

Auffällig ist auch, dass sich die Bücher in ihren Aussagen wiederholen. Denn spätestens nach dem dritten Buch bemerkte ich, dass die Autor*innen alle dasselbe versprachen: eine einfache, schnelle Anleitung für ein erfülltes Leben. Personen, denen es tatsächlich schlecht geht, die vielleicht an einer Depression oder anderen Krankheiten leiden, fühlen sich von den Büchern womöglich missverstanden und verhöhnt. Im schlimmsten Fall könnte dies dazu führen, dass sich die mentale Lage der Betroffenen verschlechtert.

Auch kritische Körperbilder werden ohne tiefere Auseinandersetzung reproduziert. Das Ziel, abzunehmen und eine Diät durchzuziehen, wird in vielen Büchern als Paradebeispiel verwendet. Bodyshaming steht an der Tagesordnung; es wird die Ansicht verbreitet, dass ein erfülltes Leben nur mit einem normschönen, schlanken Körper möglich sei. 

Die Selbsthilfeindustrie lebt von Menschen, die sich in ihrer derzeitigen Lebenssituation nicht wohlfühlen. Selbstzweifel und die Bedenken, nicht genug zu sein, befeuern den Trend. Denn wer sollte die Bücher kaufen, wenn alle mit sich selbst zufrieden wären? Auch auf YouTube, TikTok und Co. wird die Self-Improvement-Bewegung immer beliebter. Social-Media-Plattformen sind überströmt mit Sechs-Uhr-Morgenroutinen, Romanticize-your-life– und THAT-Girl-Videos. Gerade für jüngere Menschen kann dieser Perfektionismuszwang problematisch werden.  

Ein ambivalentes Verhältnis

Wer einmal auf den Geschmack von Ratgebern kommt, kann schnell in eine Spirale geraten, ein Buch nach dem anderen lesen und dabei denken, sein Leben zu verbessern. Dieser Trugschluss kann gefährlich werden, wenn das tatsächliche Handeln ausbleibt und man frustriert feststellt, dass sich nichts geändert hat. Selbsthilfebücher sind eine gute Quelle, um Motivation zu schöpfen. Es reicht aber vollkommen aus, ein bis zwei Bücher zu lesen, um sich dann mit neuer Energie den eigenen Zielen zu widmen. 

Außerdem sollten die Tipps stets hinterfragt und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Nicht jede*r mag Yoga und es ist völlig okay, unproduktiv oder schlecht gelaunt zu sein. Das Leben verläuft nicht geradlinig, auch wenn die Selbsthilfeindustrie einem dieses Scheinleben gern verkauft. Doch natürlich gibt es auch positive Seiten: Ich konnte viele spannende Denkansätze aus den Büchern mitnehmen, habe mich inspirieren lassen und bin achtsamer geworden. Wie so oft ist es auch hier wichtig, beide Seiten der Medaille zu betrachten.


Empfehlungen für Interessierte

  • The Power of Now, Tolle, circa 10 Euro: Das Buch ist ein Must-read in der Selbsthilfeszene. Eckhart Tolle erklärt, was es wirklich heißt, den Moment zu leben, und wie es gelingt, das Ego hinter sich zu lassen und positive Gedanken zu formen.
  • You Are a Badass, Sincero, circa 10 Euro: Das Buch ist perfekt geeignet für Selbsthilfebucheinsteiger*innen. Es ist leicht geschrieben und gibt einem genau den Schubser, den man braucht.
  • Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls, Branden, circa 11 Euro: Wer sich tiefergehend mit dem eigenen Selbstwertgefühl auseinandersetzen möchte, sollte dieses Buch lesen. Es ist etwas älter und an manchen Stellen langwierig, deckt aber wichtige Kernkompetenzen für ein gesundes Selbstwertgefühl auf und regt zum Nachdenken an.

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