Konzerte, Kanu, Krieg

Seit dem russischen Angriffskrieg auf Ukraine ist das Leben für acht Millionen Ukrainer*innen nicht mehr wie vorher. Die Studentin Yuliia ist eine von ihnen. Sie berichtet über ihren Umgang damit aus der Ferne.

Yuliia mit ihrem Freund an der Ostsee in Gdynia. Foto © Mariya Martiyenko

»So nah war ich meinem Zuhause seit 13 Monaten nicht mehr«, sagt Yuliia, den Blick aufs Meer gerichtet. Dabei sind es noch über 900 km Luftlinie bis nach Kyiv. Der Himmel ist wolkenverhangen an diesem Apriltag, die Ostsee rauscht und schäumt, die Wellen rollen über den Sand bis an ihre Stiefel. Hier in Gdynia, der Nachbarstadt von Danzig, macht Yuliia mit ihrem Freund und seiner Familie Urlaub.

Die Tage, an denen sie in den ersten Monaten nach der Ausweitung des Krieges keine Nachrichten gelesen hat, kann sie an einer Hand abzählen. »Es gab Tage, an denen meine Bildschirmzeit 20 Stunden überschritten hat«, gibt Yuliia zu. Alle hätten sich hilflos gefühlt – sich medial über das Kriegsgeschehen in der Heimat zu informieren, war das Einzige, was Yuliia aktiv tun konnte. Inzwischen versucht sie, weniger Nachrichten zu konsumieren. Sie erlaubt sich eine Stunde täglich, um sich über neue Entscheidungen von Politiker*innen und die Entwicklungen an der Front zu informieren. Doch Online-Zeitungen sind nicht die einzige Informationsquelle. Denn wenn sie Instagram öffnet, wird sie von unzähligen persönlichen Schicksalen überschwemmt. »Dort teilen die Menschen ihre Geschichten von Unglück und Tod«, erzählt sie. »Es ist sehr wichtig, sie zu verbreiten, aber auch sehr deprimierend.«

In Fenstern und von Balkonen wehen unzählige ukrainische Flaggen. Polen hat bisher 1,6 Millionen ukrainische Geflüchtete aufgenommen – mehr als jedes andere europäische Land. Am Strand ist viel Ukrainisch und Russisch zu hören. Mütter und Kinder spazieren die Promenade entlang. Dabei ist es nicht immer eindeutig zu hören, woher die Menschen kommen. Yuliia findet: »Es ist schade, aber sehr verständlich, dass nicht alle Ukrainer*innen ihre Landessprache sprechen.« In der Sowjetunion wurden alle lokalen Sprachen und Kulturen der 15 Mitgliedstaaten unterdrückt und durch die Russische ersetzt. Das wirkt bis heute nach.

Andere Vorstellungen, andere Prioritäten

Yuliia kam im März 2022 nach Deutschland – nicht als Geflüchtete, sondern als Erasmus-Studentin in International Relations. Ihr Aufenthalt an der Uni Gießen war bereits seit Herbst 2021 geplant. »Ich fühlte mich privilegiert, nach Gießen zu gehen, dort eine Unterkunft zu haben und ein Stipendium zu bekommen, während Zehntausende ins Ungewisse geflüchtet sind«, erzählt sie. Ihr Auslandssemester habe sie sich anders vorgestellt: neue Menschen treffen, auf Konzerte gehen, Kanu fahren auf der Lahn und das Leben in einer kleineren Stadt kennenlernen. Stattdessen sei die Zeit und ihr Kopf voll von Sorgen und Gedanken an Zuhause gewesen. »Bei jedem positiven Erlebnis hatte ich ein schlechtes Gewissen. Anderen Menschen aus meiner Heimat passieren so schreckliche Dinge. Man kann sich nicht aussuchen, wo man herkommt. Ich könnte genauso gut an ihrer Stelle dort sein. Es ist so ungerecht, was den Menschen passiert und es macht mich so wütend.«

Plötzlich mache es keinen Unterschied mehr, wenn die Professorin zwei Tage lang nicht auf eine E-Mail antwortet oder die Note in der Klausur schlechter als erwartet ausfällt. Solche Sachen ließen dich kalt, wenn du Luftalarm erlebt hast und dir täglich Sorgen um deine Liebsten machst, berichtet Yuliia. »Ein Krieg verändert deine Perspektive und entfernt dich von anderen. In Gesprächen über Probleme, die mir jetzt so banal erscheinen, finde ich einfach keinen Anschluss mehr.« Sie verstehe jetzt, was wirklich wichtig ist: Sie lebt, und das ist für die Menschen in der Ukraine keine Selbstverständlichkeit mehr.

Der Wind zerzaust ihre Haare. Yuliia zieht die Jacke enger um ihren Körper, während sie weitererzählt. »Absurderweise hat mir der Krieg neue Möglichkeiten eröffnet.« Im Herbst hat sie vier Monate lang in Kanada studiert. Früher habe es noch keine Kooperation zwischen ihrer Uni in Kyiv und der in Toronto gegeben, erklärt sie.

An der Uni in Toronto schloss sie sich einer Gruppe von Freiwilligen an, die zusammen eine ukrainische Woche mit Events auf dem Campus organisierten. Mit Vorträgen, Ausstellungen und Filmvorführungen erzählten sie ihren Kommiliton*innen von der Ukraine, auch vom Krieg.

Unerfüllte Lebenspläne und nicht verwirklichte Studienziele

Die Gruppe ist weiterhin aktiv, auch wenn die Teilnehmer*innen nach ihrem Semester in Kanada nun über die ganze Welt verstreut sind. Zum ersten Jahrestag der russischen Invasion entwickelten sie das Projekt Unissued Diplomas. Ihre Ausstellung zeigte 36 fiktive Abschlusszeugnisse und Fotos ukrainischer Studierender, die bei Angriffen durch die russische Armee getötet wurden und ihr Studium nie abschließen konnten. Die Zeugnisse dokumentieren unerfüllte Lebenspläne und nicht verwirklichte Studienziele. Die Geschichte des 36. Diploms fehlt. Die Studentin aus Mariupol ist gemeinsam mit ihrer Familie gestorben, sodass niemand mehr über ihr Leben und ihre Träume erzählen konnte. »Mit dem Projekt wollten wir die Welt an den andauernden Krieg erinnern und an den Preis, den Ukrainer*innen jeden Tag zahlen, um für ihre Freiheit zu kämpfen«, erklärt Yuliia. Die Ausstellung wurde an über 50 Universitäten weltweit gezeigt.

Es ist ihre Freiwilligenarbeit, die Yuliia dagegen hilft, keine Schuld zu empfinden, weil sie nicht vor Ort in Kyiv ist. Wenn sie Projekte wie die Unissued Diplomas organisiert, hat sie das Gefühl, etwas zu bewirken und nützlich zu sein. Außerdem gibt sie Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, Englischunterricht. Und sie schreibt ihre Bachelorarbeit. Ihr Studium sei ihr nach wie vor wichtig, denn die Ukraine brauche gut ausgebildete Menschen, um nach dem Ende des Krieges das Land wieder aufbauen zu können.

Anfang Mai sitzt Yuliia am Schreibtisch in ihrer Wohnung in Marburg und bereitet eine Präsentation über den aktuellen Stand ihrer Bachelorarbeit vor. Im Hintergrund des Video Calls baumelt eine Pilea-Pflanze vom Kleiderschrank, zwischendurch winkt ihr Freund in die Kamera. »Wenn über Krieg berichtet wird, stehen vor allem Männer im Vordergrund«, holt Yuliia aus. Aber der Krieg erschüttere auch das Leben von Frauen. Um das ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, entschied sie sich zu erforschen, wie der Krieg in der Ukraine die Rolle der Frauen verändert.

»Viele Frauen, die ins Ausland fliehen, sind auf sich allein gestellt und müssen sich nun ohne Unterstützung um die Kinder kümmern. Es gibt Frauen, die zur Armee gehen und kämpfen. Frauen, die sich in die Freiwilligenarbeit stürzen. Und es gibt Frauen, die nun deutlich mehr Care Arbeit leisten, was die traditionellen Geschlechterrollen verfestigt«, zählt sie auf. Die persönlichen Geschichten ukrainischer Frauen zu lesen und sich zu fragen, wie sie in ihrer Situation sich entschieden und gehandelt hätte, sei hart und ziehe sie schnell runter, erzählt Yuliia.

Wer ist schuld?

Auf die Frage hin, wer die Schuld am Angriffskrieg trage, gerät Yulia kurz ins Nachdenken. »Nicht alle Russen und Russinnen«, sagt sie schließlich. Vor allem nicht die jungen Menschen, die in das autoritäre Regime hineingeboren wurden, das Putin geschaffen hat. Aber die russische Bevölkerung als Gesellschaft trage eben doch eine Verantwortung und Schuld, betont sie. »Die Gesellschaft hat das System jahrelang mitgetragen und unterstützt, ohne sich aufzulehnen.«

Im Gegensatz zu Andriy Melnyk, dem ehemaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, der im März 2022 behauptete, dass alle Russen und Russinnen nun Feind*innen seien, ist Yuliia ihnen nicht grundsätzlich feindselig gesinnt. »Das hängt natürlich vollkommen von deren politischen Einstellungen ab.« Zugleich glaubt sie aber nicht, dass eine Kooperation zwischen der Ukraine und Russland in der nächsten Zukunft möglich sein werde. Auch von Vergebung werde noch sehr lange nicht die Rede sein können, schätzt sie. »Stattdessen wird die Ukraine sich vollständig vom russischen Einfluss abkoppeln. Nur in völliger Unabhängigkeit von Russland wird es möglich sein, unsere Identität als Nation neu zu gestalten.«

*Die Gespräche wurden auf Ukrainisch geführt.

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