„Ich meine, woher kommst du wirklich?“ – Mückenstiche mit System

Marginalisierte Gruppen erfahren in einer (weißen) Mehrheitsgesellschaft Diskriminierung, die den meisten verborgen bleibt. Die Öffentlichkeit wird erst langsam auf Mikroaggressionen aufmerksam. Timea erzählt aus ihrem Alltag. Ein Feature von Alexandra Enciu.

Mücken abschaffen! Illustration: Noa Kreutz.

Am frühen Nachmittag im Herbst fährt Timea mit dem Bus von der Schule nach Hause. Die Sonne senkt sich langsam über die Straßen von Bukarest, während sich immer mehr Menschen ihren Weg nach Hause bannen. Timea gehört zur ungarischen Minderheit in Rumänien und ist in Bukarest aufgewachsen. Den Weg ist sie schon etliche Male gefahren, vorbei am Regierungsgebäude, den beiden im neoklassizistischen Stil gebauten Museen und schließlich an dem einfallslos gefärbten kommunistischen Plattenbau. Wer kombiniert schon orange-braun mit grau? Doch an eine Fahrt erinnert sie sich besonders: „Es war eine große Drängelei.“ Der Bus sei voller Menschen gewesen, Kinder hätten geschrien. „Ich telefonierte auf Ungarisch. Plötzlich kam eine ältere Person auf mich zu und verlangte, dass ich leiser sprechen solle.“ Im ersten Moment habe sich Timea darüber gewundert, warum genau sie ein Störfaktor sein sollte. Erst danach verstand sie: Es war ihre Sprache, die der Person nicht gepasst hatte – sie ist gerade Opfer einer Mikroaggression geworden.

Was haben Mücken damit zu tun?

Der Begriff der Mikroaggression stammt aus der Sozialpsychologie und wurde erstmals von dem US-amerikanischen Psychiater Chester Pierce in den 1970er-Jahren eingeführt. Ursprünglich bezeichnete er Angriffe weißer Personen auf die Würde von Black, Indigenous and People of Color (BIPoC). Unter Mikroaggressionen versteht man also indirekte, subtile oder unbeabsichtigte Diskriminierung von Angehörigen einer Minderheit. Diese reichen von Komplimenten an BIPoC, weil sie ›gutes Englisch‹ sprechen, über das ständige Unterbrechen einer Person bis hin zur Umklammerung der eigenen Handtasche, wenn BIPoC in der Nähe sind.

Im Journalismus werden Mikroaggressionen immer wieder als Mückenstiche bezeichnet. Der Grund für diesen Vergleich: Sie sind kleine, immer wiederkehrende Momente, die für Unbeteiligte kaum wahrnehmbar sind, deren Stiche allerdings – gerade in ihrer Masse – tief verletzen. 

Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Deutschland ist Alltagsrassismus kein Randphänomen. Mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist von Diskriminierung betroffen. Dennoch sind sich viele der Problematik nicht bewusst: Eine Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen, die Rassismus ausüben, Betroffene oft als hypersensibel oder ängstlich wahrnehmen. Zudem empfindet fast die Hälfte der Befragten jede Kritik an Rassismus als unangemessen und als einen Angriff auf ihre Meinungsfreiheit.

Schutz gegen Stiche

Themen wie Rassismus, Diskriminierung und Mikroaggression sind ein globales Problem. Daher haben viele Länder Antidiskriminierungsorganisationen gegründet. Diese sollen rechtliche Maßnahmen zur Beseitigung dieser gesellschaftlichen Missstände einzuleiten. Oft bieten sie Diversity-Trainings und Informationsmaterialien an und entwickeln Strategien gegen strukturelle Diskriminierung. In der Europäischen Union ist sogar jeder Mitgliedstaat gemäß EU-Richtlinien verpflichtet, eine Menschenrechtsinstitution einzurichten.

„Mikroaggressionen verletzen die Menschenwürde der Person“, erklärt Csaba Asztalos, Präsident des Nationalen Rats für die Bekämpfung von Diskriminierung in Rumänien (NRBD). Deshalb habe der NRBD zwei Hauptaufgaben: Diskriminierung zu verhindern und zu sanktionieren. Seit der Gründung des Rates vor rund 20 Jahren habe sich die Zahl der eingereichten Beschwerden jährlich verhundertfacht. „In dieser Zeit wurde ein wichtiger Prozess in Gang gesetzt: Die Gesellschaft wurde dafür sensibilisiert, dass es einen rechtlichen und institutionellen Rahmen gibt, um diskriminierende Handlungen zu verhindern und zu bestrafen“, berichtet Asztalos weiter. „Für die Zukunft ist geplant, der Europäischen Kommission Projekte vorzuschlagen, die den Zugang zu psychologischer Unterstützung für Diskriminierungsbetroffene gewährleisten.“

Wörter und Handlungen verletzen

Oft besteht das Problem für die Betroffenen darin, dass sie nicht wissen, wie sie auf Mikroaggressionen reagieren können. Auch Timea berichtet, dass sie sich in der Situation im Bus wie gelähmt fühlte und nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Angst zu haben, in der Öffentlichkeit mit der eigenen Familie zu sprechen, in Gesprächen ständig unterbrochen zu werden, immer wieder zu hören: „Die hat bestimmt ihre Tage“, oder „Du sprichst aber gut Deutsch“. Menschen wie Timea fühlen sich immer wieder genötigt, ihre eigene Identität zu rechtfertigen und sich wieder und wieder erklären zu müssen.

Derald Wing Sue, der viel zur Psychologie des Rassismus geforscht hat, empfiehlt in seinem Buch Microaggressions in Everyday Life: Race, Gender, and Sexual Orientation eine Reihe von Strategien, um mit Mikroaggressionen umzugehen: Selbstfürsorge, Suche nach Unterstützung, Selbstbehauptung, Bildung und Interessenvertretung.

Mikroaggressionen sind oft ein alltägliches Phänomen, das so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, dass die Betroffenen den Kampf gegen Diskriminierung aufzugeben drohen. „Ich war nicht überrascht und auch nicht verärgert. Ich war enttäuscht, weil solche Reaktionen in Bukarest oft vorkommen“, erzählt Timea. Häufig unterscheidet sich dabei die Wahrnehmung der Betroffenen von der der Aggressor*innen: Denn Angehörige einer Minderheit beurteilen solche Situationen vor dem Hintergrund ähnlicher Erfahrungen in der Vergangenheit. Im Gegensatz dazu bewertet eine weiße Person ihr eigenes Verhalten als ein einmaliges Ereignis. Es wird den BIPoC gesagt, dass ihre emotionalen Ausbrüche Stereotype über Minderheiten bestätigen. Dies kann das gängig benutzte Angry Black Woman– oder das Frauen sind irrational-Stereotyp sein. 

Appell an Alle

Auch die Freie Universität Berlin (FU) zieht Konsequenzen: 2015 haben die zentrale Frauenbeauftragte und das Margherita-von Brentano-Zentrum als gemeinsames Projekt die TOOLBOX Gender und Diversity in der Lehre ins Leben gerufen. Diese bietet Antidiskriminierungsworkshops wie Miteinander statt gegeneinander an, die zur Schaffung diversitätssensibler und diskriminierungskritischer Lernräume beitragen sollen. Darüber hinaus betreibt der Allgemeine Studierendenauschuss der FU die Kampagne RECHTE IDEOLOGIE EXMATRIKULIEREN, mit der aktiv gegen Diskriminierung durch Dozierende vorgegangen werden soll. Die FU ist Mitglied in mehreren Netzwerken, die sich gegen Diskriminierung engagieren, wie das Bündnis gegen Homophobie, das Netzwerk Antidiskriminierung an Hochschulen und das Netzwerk Diversity an Hochschulen. Ziel ist es, die Universität zu einem diskriminierungssensiblen und sicheren Lernort zu machen.

Zurück im Bus: Timea berichtet, dass sie Mikroagressionen als Kind viel stärker mitgenommen haben. „Als ich jünger war, dachte ich, ich sollte aufhören, in der Öffentlichkeit Ungarisch zu sprechen und stattdessen nur noch Rumänisch sprechen“. Sie glaubt fest daran, dass die neue Generation die Situation ändern werde und sei froh, auch ein Teil davon zu sein. „Ich denke, dass man solche Aggressionen, solche Arten von Diskriminierung bekämpfen kann, indem man sich kritisch mit den Vorurteilen auseinandersetzt. Wir müssen uns bewusst machen, welche Worte und Handlungen verletzen und welche nicht, und wir müssen uns dann aktiv für Gleichberechtigung und Respekt einsetzen.“

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