Wo wart ihr in Hanau?

Am 19.2.2024 jährte sich der rassistische Anschlag in Hanau zum vierten Mal. In ganz Deutschland fanden Demonstrationen statt, auch in Berlin. Sara Kenderes berichtet über rassistische Polizeigewalt und die Verbindung zu Palästina.

Eigentlich war die Gedenkstelle für die neun ermordeten Opfer woanders geplant gewesen. Dann gab es Probleme mit der Polizei und es musste improvisiert werden. Jetzt befindet sie sich an einem Zaun neben dem Kebab-Haus an der S-Sonnenallee. Transparente wurden notdürftig am Zaun befestigt, Blumen und Kerzen davor angeordnet. Als die Gedenkveranstaltung für die Opfer Hanau-Terrors gegen 18:00 Uhr beginnt, haben sich laut polizeilichen Angaben etwa 1.000 Menschen versammelt, später werden es rund 3.200 sein, Veranstalter*innen zufolge sogar 10.000. Die Migrantifa, die sich als Reaktion auf den Anschlag in Hanau gegründet hat, ist Hauptorganisatorin der Demo.

Bild: Sara Kenderes

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. An sie soll dort erinnert werden. Am 19. Februar 2020 wurden sie in Hanau von einem Rechtsextremisten aus rassistischen Motiven ermordet. Doch die Tat kann nicht als Einzelfall betrachtet werden. Vielmehr steht die Nacht des 19. Februar seither auch für die enge und strukturelle Verbindung der Polizei zu rechtsextremen Kreisen. 13 der 19 Polizeibeamten aus der mittlerweile aufgelösten SEK-Einheit waren in Hanau im Einsatz – sie alle waren in rechtsextremen Chatgruppen.

Sophia ist Studentin an der HU und an diesem Abend dabei. Sie findet es sehr wichtig, gerade in Zeiten des Rechtsrucks zur Demo zu gehen. Denn laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz ​​hat sich die Zahl „der gewaltorientierten Rechtsextremisten mit rund 14.000 Personen gegenüber den Vorjahren erneut erhöht“. Sophia ist überzeugt: „Hanau: Das ist kein linkes Thema. Es ist ein menschliches Thema, es geht darum, rassistische Morde zu stoppen.“

„Pro-palästinensische Bullenhasser-Demo“?

Anfangs gibt eine Rednerin bekannt, die Versammlung sei von der Berliner Polizei als eine „pro-palästinensische Bullenhasser-Demo“ eingestuft worden. Tatsächlich tragen viele der Teilnehmenden eine Kufiyeh und auch ein paar Palästina-Flaggen sind zu sehen.

Deshalb gebe es einige Auflagen, die jetzt in deutscher und arabischer Sprache vorgelesen werden sollen. Unter anderem sei das Verbrennen von Fahnen und das Rufen von israelfeindlichen Parolen untersagt. Immer wieder weist die Polizei die Veranstalter*innen dazu an, die Auflagen zu wiederholen – immer zweisprachig. Eine Sprecherin quittiert dies mit den Worten, die Polizei solle mal mehr in Hörgeräte investieren.

Der Ruf „Wo wart ihr in Hanau?“ ertönt, einige der Teilnehmenden steigen mit ein. Doch ein Sprecher greift zum Mikrofon: „Leute, ich hab das früher auch immer gerufen. Aber in diesem Satz steckt immer noch der Glaube daran, dass die Polizei uns schützen soll. Dieses Vertrauen hab ich nicht mehr.“ Der Ruf ebbt ab. Die meisten der Teilnehmenden eint, dass sie die Polizei mit rassistischer Terrorisierung verbinden, aber manche Demonstrierenden reagieren genervt: „Warum mansplaint der so?“ 

Hanau und Neukölln

„Hanau und Neukölln trennt nur der Zufall“, sagt Malik, Aktivistin der Migrantifa. Sophia stimmt dem zu: „Mein Bruder hätte ein Opfer sein können.“ Die Menschenmenge ist kurz still und die Nacht des 19. Februar 2020 wirkt plötzlich noch näher.

Es folgen einige musikalische Darbietungen, türkische Lieder und der Neuköllner BIPoC-Rapper Shadore, der über seinen Geburtstag singt. Der ist am 20. Februar. Damals, einen Tag nach Hanau, habe sein weißes Umfeld von ihm erwartet, dass er ganz normal seinen Geburtstag feiern würde. Stattdessen begann er, Songs zu schreiben. Auch eine bewegende Performance vom Theater X, dem selbstorganisierten Community-Theater aus Moabit, folgt im Anschluss. Nachdem noch viele Plakate von Opfern rassistischer Anschläge in Deutschland verteilt wurden, zieht die Demo los. Die Plakate sind mit Lichterketten umrandet.

Bild: Sara Kenderes

„Hanau, Halle, Celle – Alles keine Einzelfälle“ schallt es durch Neukölln. In Halle kam es 2019 zu einem antisemitisch motivierten Anschlag auf eine Synagoge, in Celle wurde 2023 die Stiftung niedersächsischer NS-Gedenkstätten angegriffen. 

Hanau, Halle und Celle zeigen, wie sinnlos es ist, antimuslimische gegen antisemitische Gewalt auszuspielen und andersherum. Malik von der Migrantifa betont ausdrücklich, dass man Diskriminierungen gegen „die jüdischen Brüder und Schwestern“ nicht akzeptieren werde. 

Viele Demosprüche und Transparente wenden sich explizit gegen die Polizei. „Deutsche Polizisten, Mörder und Rassisten“ rufen Teilnehmende, während der Regen immer stärker wird. Doch auch an diesem Tag richtet sich die Polizeigewalt vor allem gegen rassifizierte Teilnehmende. Die mangelnde Reflexion wirkt fast ironisch.

Charlie ist eine Studentin an der FU und hat an der Demo teilgenommen – bis ganz zuletzt. Sie meint, es schockiere sie, wenn „weiße Menschen anzweifeln, dass rassistische Polizeigewalt real ist“.

Palästina-Präsenz auf der Hanau-Demo

Schon am Mittag ist Hanau Gesprächsthema bei Studierenden in der FU-Mensa. Einige äußern Bedenken zur Migrantifa, die in letzter Zeit vermehrt in der Kritik stand. Sie haben die Befürchtung, die Gedenkveranstaltung könne für Palästina-Solidarität „instrumentalisiert“ werden. Sophia hat dafür jedoch kein Verständnis. „Wie kann man denn Hanau und Palästina trennen? Die Menschen, die auf Palästina-Demos kriminalisiert werden – das sind doch dieselben Menschen, die Opfer des Hanau-Anschlags hätten sein können.“

Besonders seit dem 7. Oktober hat die polizeiliche Schikane gegenüber palästinensischen und muslimisch gelesenen Menschen noch einmal zugenommen.

„Viva Viva Palästina“-Rufe sind zu hören, von den Veranstalter*innen kommt die Ansage, dass der Ruf „From the River to the Sea“ eine Straftat sei. Schilder werden in die Luft gehalten, auf ihnen steht: „Stoppt den Genozid“. Doch nicht alle Demonstrierenden fallen in die Rufe mit ein.

Zu der Palästina-Präsenz auf der Demo ist Charlie zwiegespalten. „Natürlich hat der Palästina-Block auf einer Demo, bei der es um rassistische Polizeigewalt geht, seine komplette Berechtigung.“ Dennoch habe sie schlucken müssen, als vereinzelt „From the River to the Sea“-Rufe ertönten. „Das führt dann schnell dazu, dass die Cops viel aggressiver werden als sowieso schon.“

Bild: Sara Kenderes

Der Regen nimmt an Fahrt auf, die Stimmung wird immer aufgeheizter. Der Palästina-Block ist lauter geworden und der erste Teilnehmer wird festgenommen. Ständig ist der Demozug gezwungen, stehen zu bleiben. Sophia berichtet, dass die Polizei dann durchgesagt habe, man solle nachhause gehen. „Aber die Veranstalter*innen meinten: Die Demo ist erst dann beendet, wenn niemand mehr hier ist. Die Polizist*innen haben ihre Helme aufgesetzt, da wusste man: Jetzt wird es gewaltvoll.“

Charlie erzählt, dass sie gesehen hat, wie „Massen von Cops eine rassifizierte Person gejagt haben. Sie haben den Mann in einen Hinterhof gezogen, eine Doppelkette davor gebildet und wahrscheinlich gefilzt. Nach ungefähr fünf Minuten haben sie ihn wieder freigelassen. Aber wir haben nicht gesehen, was sie mit ihm gemacht haben, es war beängstigend.“

Sophia findet das verrückt. „Wir sind doch friedliche Demonstrierende.“

Erst bilden die Ordner*innen Ketten, dann auch die Teilnehmenden. Doch die Stimmung wird immer chaotischer, Menschen bekommen Angst und lösen sich aus der Kette. Ein BiPoc Ordner schreit: „Ihr seid Weiße! Ihr müsst euch vor uns stellen!“

Obwohl es um sie herum immer panischer wird, bleibt Sophia ruhig und greift stattdessen zum Handy. „Es bringt nichts zu schreien. Das Chaos spielt der Polizei nur in die Karten. Ich versuche immer zu filmen. Aber manchmal ist da eine Person auf dem Boden, zwei Polizisten oben drauf und sieben Polizisten drum herum. Dann filme ich zwischen den Beinen durch.“

Ein frühzeitiges Ende

Nach weiteren Festnahmen fordern schließlich auch die Veranstalter*innen die Teilnehmenden auf, nachhause zu gehen. Laut Polizeibericht leiten die Einsatzkräfte 21 Ermittlungsverfahren ein, unter anderem aufgrund „tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte“. So wird die Demo frühzeitig abgebrochen und erreicht ihr eigentliches Ziel, den Hermannplatz, nicht mehr.

Auf die Frage, warum es Charlie wichtig war, bis zum Ende zu bleiben, antwortet sie: „Es fühlt sich falsch an, zu gehen, wenn es brenzlig wird. Ich bin eine weiße Person, ich werde nicht andauernd kriminalisiert. Gerade deshalb ist es wichtig, bis zum Ende dazubleiben. Wir können unsere Kufiyehs nach einer Demo theoretisch einfach ablegen. Für rassifizierte Menschen ist das anders.“

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.