Demokratische Praxis

Letzte Generation, Erster Mai, Black Lives Matter: Immer wieder werden Protestierende als irrational, zu emotional, zu wütend dargestellt. Warum Wut auf der Straße aber wichtig ist, erklärt Protestforscher Jannis Grimm im Interview mit Anja Keinath.

Jannis Grimm erforscht am Berliner Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung die Dynamiken von sozialer Mobilisierung und staatlicher Repression sowie die sozialen und kulturellen Folgen von Massenprotest. Foto: Jannis Grimm

Herr Grimm, wie drückt sich kollektive Wut in der Gesellschaft aus?

Jannis Grimm: Wut ist ein integraler Bestandteil von Gesellschaften – insbesondere dann, wenn Menschen Verletzungen ihrer Würde erleben oder Ungerechtigkeit erfahren und wenig Handlungsspielraum haben, dieser zu begegnen. Lange Zeit wurden Protestierende als Angry Mob dargestellt – also als durch Triebe gesteuerte Masse, die kontrolliert werden muss. Auch in vielen demokratischen Systemen wurde Protest als störend empfunden, da die Artikulation von Interessen ja in Parteien und Interessenverbänden, aber nicht konfrontativ und auf der Straße stattfinden sollte. Die Protestforschung zeigt aber, dass auch unzivile oder disruptive Proteste für die Demokratie produktiv sein können und Wut ein entscheidender Faktor ist.

Dann ist es also falsch, Wut per se als schlecht zu bewerten.

Grundsätzlich sind Emotionen nicht gut oder schlecht, sondern Teil unseres Lebens und damit auch Teil unseres politischen Lebens. Die spannendere Frage ist doch, welche Machtstrukturen dahinter liegen, wenn affektives Handeln im öffentlichen Raum diskreditiert wird. Wer entscheidet, wann Wut gerechtfertigt ist und welche Sprache angemessen ist, wenn über gesellschaftliche Missstände diskutiert wird?

Woher kommt es, dass Wut so einen schlechten Ruf hat?

In der Geschichte wurden immer wieder gesellschaftliche Gruppen delegitimiert, indem sie als irrational dargestellt wurden. So wurden Frauen als hysterisch und damit als unfähig dargestellt, politische Entscheidungen zu treffen. Kolonisierte Menschen wurden als unzivilisiert dargestellt, als roh und triebgesteuert, und daher als legitime Objekte der Disziplinierung. Nach wie vor wird in unserem politischen System die Zuschreibung von Emotionen verwendet, um Akteur*innen zu diskreditieren. Polizei und Sicherheitskräfte stellen sich selbst als rational, Protestierende hingegen als emotionsgetrieben dar, um soziale Kontrolle zu rechtfertigen. Wenn zum Beispiel Geflüchtete aus Protest über ihre Unterbringungszustände Lager in Brand setzen, werden sie als irrational und potenziell gefährlich porträtiert und damit zum Objekt von Sicherheitspolitik. Der politische Akt wird dabei überdeckt. Emotionalität wird mit mangelnder Rationalität gleichgesetzt.

Bedeutet Wut immer auch Gewalt?

Nein, Gewalt ist nicht mit Wut gleichzusetzen. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA war von einem unglaublichen Ethos der Gewaltlosigkeit angetrieben, war aber gleichzeitig in hohem Maß wütend über die Zustände in der Gesellschaft. Die Akzeptanz von Bestrafung durch Inhaftierung wurde als Akt der Selbstermächtigung verstanden. Man kann also auch gewaltfrei sehr wütend sein. Umgekehrt kann physische Gewalt auch ohne Wut funktionieren, sogar oftmals viel effizienter.

Angesichts der ernsten Lage wirkt der Klimaprotest relativ zahm. Ist dieser nicht wütend genug?

Betrachtet man die Five Stages of Grief, könnte man den Eindruck haben, dass wir gesellschaftlich das Stadium der Wut übersprungen haben und direkt zur Resignation übergegangen sind. Dabei ist es wichtig, Wut auszudrücken, da sie als Motor für Veränderung dient. Deshalb: Ja, der Klimabewegung würde mehr Wut guttun.

Kann auch Freude am Anfang von Protesten stehen?

Ja, sie ist sicher einer der wichtigsten Faktoren. Protest ist nie nur wütend. Viele Proteste sind ja nicht nur gegen etwas, sondern setzen sich für eine bessere Zukunft ein. Auch das Gefühl, Repressionen zu erfahren oder zu überstehen, lässt unglaubliche Glücksgefühle frei werden und kann zu einem Faktor werden, der Menschen noch stärker zusammenschließt. Die eigene Handlungsfähigkeit in einer Situation, in der man eigentlich resignieren könnte, unter Beweis zu stellen, hat ein sehr emanzipatorisches, ein sehr optimistisches Element.

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