Ausgeliefert

Der Lieferdienst Wolt wirbt um Studierende, verspricht flexible Arbeitszeiten und hohe Verdienste. Doch das Unternehmen soll seine Rider nicht bezahlt haben. Einer von ihnen zieht vor Gericht. Victor Meuche und Sara Kenderes waren dabei.

Bild: Sara Kenderes

An einem kalten  Novembermorgen  beginnt am Arbeitsgericht Berlin die Hauptverhandlung. Es geht um offene Löhne in Höhe von tausenden Euro und um eine fragwürdige Firma, die schwerer zu fassen ist als ein Stück nasse Seife.

Im Sitzungssaal 334 sitzt Mohammad Shoaib Bhatti, mittellange schwarze Haare, neben ihm sein Anwalt Martin Bechert. Bhatti studiert Digital Marketing in Berlin und kommt ursprünglich aus Pakistan. Er trägt Jeans und eine blau-schwarze Jacke des finnischen Lieferdienstes Wolt. Bis Januar 2023 hat Bhatti im Auftrag des Unternehmens insgesamt drei Monate lang und über 400 Mal Essen ausgeliefert. Für seine Arbeit ist Bhatti mutmaßlich nie bezahlt worden. Er fordert von Wolt mehr als 3000 Euro Lohn und 94,10 Euro Trinkgeld.

Und da sitzt die Anwältin von Wolt, Elika Schneider, Partnerin der Kanzlei Altenburg, glatte schwarze Haare, runde Brille. Schneider sagt, Wolt sei nicht verantwortlich. Denn: Bhatti sei nie direkt bei Wolt angestellt gewesen, sondern bei einem unabhängigen Fleet Manager namens GW Trans GmbH. Kein Arbeitsverhältnis, keine Ansprüche, so Schneiders Position.

“Wir stellen ein für Wolt”

Seit Wolt im Jahr 2020 auch nach Deutschland expandierte, sind die Rider in hellblauer Kleidung von Berlins Straßen nicht mehr wegzudenken. Viele Kuriere sind aber nicht direkt bei Wolt angestellt, sondern arbeiten im Auftrag „unabhängiger Firmen”, die mit Wolt kooperieren. Eine dieser Firmen ist die mittlerweile insolvente GW Trans GmbH, mit der Wolt bis Januar 2023 zusammenarbeitete – bis Wolt die Partnerschaft aufgrund von „Unregelmäßigkeiten” beendete.

Bhatti sagt, von GW Trans habe er noch nie gehört. Jedenfalls, solange er noch als Rider tätig war. Im Sommer 2022 hatte sich Bhatti auf eine Facebook-Anzeige für Wolt-Rider beworben. Einige Tage später habe er einen Personalfragebogen ausgefüllt – aber nicht etwa in der Wolt-Zentrale, sondern in einem Handyladen in Neukölln namens Mobile World. „Wir stellen ein für Wolt”, habe der Besitzer des Handyshops ihm gesagt.

Wolt bestreitet eine Zusammenarbeit mit Mobile World. Wie genau die Verbindung zwischen dem Handyladen und GW Trans aussah, ist weiterhin unklar.

Bhatti sagt, wenige Tage nach seinem Besuch in dem Handyladen habe er Zugang zur Wolt-Partner-App, einen Wolt-Rucksack und eine Wolt-Jacke bekommen. Einen Arbeitsvertrag habe er aber nie erhalten. Ab November 2022 lieferte Bhatti Bestellungen über die App aus, währenddessen stand er regelmäßig mit dem Wolt-Support in Kontakt. Bis er im Januar 2023 gezwungen war, aufzuhören – keinen Euro habe er für drei Monate Arbeit bekommen.

Neben Bhatti seien mehr als 100 andere Rider nicht bezahlt worden, gibt er gegenüber FURIOS an. Viele von ihnen seien ausländische Studierende, manche informell beschäftigt. Lieferdienste wie Wolt stellten sie ein, weil sie wüssten, dass sie nur für kurze Zeit in Deutschland seien, sagt Bhatti. Aus Angst um ihr Visum trauten sich viele nicht vor Gericht. Wohl auch deswegen ist Bhattis Fall der Einzige, der heute verhandelt wird.

David gegen Goliath?

Martin Bechert, Bhattis Anwalt, übernahm das Mandat umsonst. Dem Anwalt mit Glatze gehe es um Gerechtigkeit statt um Geld – und scheinbar ein bisschen um sich selbst. Wie „David gegen Goliath” sei dieser Prozess, sagt Bechert einmal, und scheint sich in der Rolle des David auch wohlzufühlen: Häufig holt er wortreich aus und fällt Elika Schneider ins Wort. Bhatti hört meistens nur zu, seine Dolmetscherin kommt mit dem Übersetzen kaum hinterher.

Bhattis Anwalt spricht von einem „nebulösen Firmenkonstrukt”, mit dem sich Wolt aus der Verantwortung stehlen wolle. Die Rider hätten nicht gewusst, dass sie nicht direkt bei dem Unternehmen angestellt sind, sagt Bechert.

Elika Schneider will das nicht gelten lassen. Bhatti habe früher schon einmal direkt für Wolt gearbeitet, daher sei er mit dem Einstellungsverfahren vertraut. Außerdem hätte Bhatti durch ein spezielles „Kürzel” in der Wolt-Partner-App „eindeutig” erkennen können, dass er nicht bei Wolt, sondern bei einem Fleet Manager angestellt gewesen sei. Auf Nachfrage besteht der Konzern darauf, dass „Wolt sich zu jedem Zeitpunkt rechtskonform verhält.”

Die Wolt-Jacke als Beweis?

Es läuft auf die Frage hinaus, ob Bhatti erkennen konnte, dass er nicht bei Wolt, sondern bei einem Subunternehmer beschäftigt war. Auch der Vorsitzende Richter Hans-Jürgen Streicher wirft diese Frage mehrmals im Prozess auf. Einmal zeigt Streicher auf die blau-schwarze Wolt-Jacke, die Bhatti trägt. „Wolt Partner” steht darauf. Was eigentlich auf den Jacken der Stammbelegschaft stehe?

„Das Gleiche”, sagt Bhatti.

Es ist kurz still im Saal.

Die Jacke, wie auch der Rucksack und der Kontakt mit dem Wolt-Support, trug dazu bei, dass Bhatti sich wie ein Wolt-Angestellter fühlte – und sich wohl auch so fühlen sollte. Doch ohne stichhaltige Beweise überzeugen Becherts Versuche, ein Angestelltenverhältnis nachzuweisen, den Richter nicht. Streicher regt daher mehrmals in der Verhandlung einen Vergleich an.

„Tausend Euro” schlägt Bechert dann plötzlich vor.

Auch die Wolt-Anwältin zeigt sich gegenüber Bechert bereit für einen Vergleich. Im Übrigen sei Wolt dafür immer offen gewesen. „Aber von Ihnen kam ja nie was”, sagt Schneider. Dabei war das Unternehmen längst nicht immer so verhandlungsbereit, wie seine Anwältin  es heute gerne darstellen möchte.

Wolt habe „gemauert” und „keinen Cent” zahlen wollen, sagt Bechert. Nicht einmal die 94,10 Euro Trinkgeld. „Peanuts”, nennt Richter Streicher den Betrag.

Bevor der Fall vor Gericht ging, hatten Bechert, Bhatti und andere Rider versucht, die Löhne per Mahnung einzufordern. Doch Wolt habe die Briefkastenschilder von der Zentrale entfernt, um die Zustellung zu verhindern, sagt Bhatti. Gegenüber FURIOS widerspricht der Konzern: „Unsere Zentrale hat und hatte zu jeder Zeit einen als solchen erkennbaren Briefkasten.”

Ein Erfolg für die Rider?

Man kann es daher als kleinen Erfolg für Bhatti werten, dass Schneider dem Vergleich über tausend Euro an diesem Tag zustimmt. Aber: Im Gegenzug für die Zahlung darf Bhatti nun nicht mehr öffentlich von einem „Arbeitsverhältnis” mit Wolt sprechen. Auf Vorschlag Streichers wird die Zahlung als „soziale Überbrückungshilfe” deklariert, also ausdrücklich nicht als Lohn. Schneider und Bechert nicken das ab.

Kurz nach der Einigung stehen vor dem Arbeitsgericht knapp dreißig Unterstützer*innen Bhattis, viele von ihnen sind selbst Rider. „Wolt schuldet uns Geld und Rechte” steht auf ihrem blauen Transparent. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und ein Ende des Subcontracting-Systems.

Anwalt Bechert wertet den Ausgang der Verhandlung als Erfolg. Überbrückungshilfe statt Lohn – „Macht das einen Unterschied?”

„Natürlich macht es einen Unterschied”, sagt Bhatti. Er gehe mit gemischten Gefühlen aus der Verhandlung, erklärt er. Doch obwohl tausend Euro wenig seien, sagt er, werde die Einigung anderen Ridern Mut machen.

Ein Urteil, was dem intransparenten Firmenkonstrukt von Wolt wirklich etwas entgegensetzt, bleibt somit aus. Arbeiter*innen wie Bhatti werden auch in Zukunft mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert sein, große Firmen wie Wolt werden sich auch weiterhin aus der Verantwortung ziehen können. Anwältin Schneider, die für ein Gespräch mit FURIOS nicht zur Verfügung stand, verlässt nach der Verhandlung den Sitzungssaal 334. Ein Zuschauer ruft der Anwältin beim Hinausgehen hinterher, dass sie sich schämen solle. Tausend Euro seien ein „Witz”. Schneider verdiene bestimmt „300 Euro pro Stunde.” Die Anwältin antwortet nicht, huscht die Treppe hinunter und ist verschwunden.

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