Facebook-Fotos lassen vermuten, dass heutzutage jeder ständig unterwegs ist – bloß raus hier, immer weiter weg, an immer exotischere Orte. Simon Purk hat Menschen gefunden, denen es anders geht. Denn Reisen hat nicht nur Vorteile.
Am Strand in Vietnam, neben einem Oldtimer auf Kuba, beim Klettern in den Gebirgen Australiens: Wenn Philippas auf Facebook die Fotos seiner Freunde anschaut, ist das wie eine virtuelle Weltreise. Auch in dem 22-Jährigen regt sich dann wieder der Drang, Deutschland ein paar Wochen den Rücken zuzuwenden: „Ich will auch etwas extrem anderes kennen lernen.“ „
Als Student der TU Berlin nutzt Philippas seine Semesterferien, um drei Mal im Jahr ins Ausland zu reisen. Erst im vergangenen Jahr war er als Backpacker in Südostasien unterwegs. Von der riesigen Tempelstadt Ankor Wat, entlang schlammiger Pfade, durch den dichten Dschungel, bis in die Megacity Bangkok. „Das ist etwas komplett anderes als hier in Deutschland. Nicht nur wegen des Klimas und der Natur, auch, weil die Leute auf völlig andere Dinge Wert legen.“ Eine einzigartige Erfahrung, die ihm helfe, sein Leben mit völlig anderen Augen zu sehen.
Doch nicht nur diese Erfahrung ist Grund dafür, dass Philippas immer wieder seinen Koffer packt. Auch die neuen Medien – Facebook, Twitter und Co. – haben einen Einfluss: „Man sieht immer krassere Sachen, pusht sich indirekt gegenseitig hoch und will immer mehr.“ Seine bescheidenen Ziele: den Mount Everest besteigen, Löwen in Südafrika bei der Jagd begleiten und mit den Straßenkindern von Istanbul Fußball spielen. „Es heißt ja auch schnell: Mensch, du hast ja gar nichts gesehen von der Welt.“
Unsere Reiseziele müssen immer exotischer sein, was wir erleben verrückter, die Schlafplätze ausgefallener. Das alles halten wir fest, auf Fotos und im World Wide Web. Dort füllt sich ein unermesslich großer Pool mit Eindrücken aus dem Ausland – die Druck aufbauen. Eine Ausrede gibt es nicht, günstigen Flügen sei Dank. Jedes Jahr starten fast 80 Millionen Flugzeuge von Deutschland aus ins Ausland, das sind viermal so viel, wie es noch vor 20 Jahren waren.
In den 1990ern war Roland Borchers einmal im Jahr mit seinen Eltern im Urlaub. „Das war dann mal an der Nord- oder Ostsee.“ Der 33-jährige Historiker arbeitet am Osteuropa-Institut der FU. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte Polens. Zweimal hat er Europa mittlerweile in Richtung Amerika verlassen, ansonsten bleibt es bei dem Nachbarland. „Ich war bestimmt schon hundert Mal dort.“ Roland ist zufrieden damit. „Reisen bildet zwar. Wohin man aber reist, ist egal. Die einen haben vielleicht im Dschungel mal eine Schlange um den Hals gehabt, dafür wissen andere, wie schön es am Schlachtensee sein kann.“ Ja, er hätte in dieser Zeit auch andere Orte sehen können, aber: „Wertvolle Erfahrungen lassen sich überall machen.“
Das weiß auch FU-Student Tobias. Die polnische Ostsee war bisher sein entferntestes Ziel. Der 27-Jährige nutzt seine Zeit lieber, um auf Festivals zu fahren. „Danach bin ich zwar körperlich nicht erholt, aber über die Musik schaffe ich es, meine Probleme, meine Sorgen zu vergessen.“ Beim Betreten des Festivalgeländes tauche er in eine Parallelwelt ein, in der er den Alltag vergesse. „Facebook, Fußball-ergebnisse und andere Freunde sind mir dann egal.“ Auch, dass diese derweil den Kilimandscharo besteigen könnten: „Ich bin einfach glücklich im Hier und Jetzt.“
Tobias‘ Reiseverhalten macht nicht nur ihn glücklich, sondern tut ganz nebenbei auch der Umwelt gut: Eine Flugreise von Frankfurt nach Singapur und wieder zurück verursacht pro Passagier 6000 Kilogramm CO2. Das ist fast das Dreifache dessen, was ein Mensch in einem Jahr erzeugen darf, damit die Klimaerwärmung auf 2 Grad Celsius begrenzt werden kann. Eine erdrückende Statistik.
„Über ökologische Folgen denke ich nicht nach, wenn ich verreise “, muss Philippas gestehen. Für ihn geht es im Sommer nach Südafrika. Ob er seine Erfahrungen nicht auch vor der Haustür sammeln könnte, der Umwelt zuliebe? „Nein, wahrscheinlich nicht“, sagt er. Mit einem nachdenklichen Blick fügt er hinzu: „Mein Erdkundelehrer in der Grundschule hat immer einen Baum gepflanzt, wenn er verreist ist. Vielleicht sollte ich jetzt auch damit beginnen.“