Wenn die Augen das Fenster zur Seele sind, was sind dann Fenster?

Die Seele anderer Menschen ergründen? Man muss nur durch die Fenster schauen, dann tun sich auch die Abgründe auf, schreibt Matthäus Leidenfrost in unserer Ferienserie.

Was sagt dieses Zimmer über die Seele des darin lebenden Menschen? Foto: George N/flickr. CC-BY 2.0, keine Änderungen

Ein tiefer und intensiver Blick in die Augen kann zwar ganz schön romantisch sein, aber wenn man einen Menschen wirklich kennen lernen will, dann sollte man besser Stunden damit verbringen, durch das Fenster in das Leben einer anderen Person zu gaffen. Das hat uns ja auch die beliebte Netflix Serie YOU gelehrt, die Stalking wieder cool gemacht hat.

Was man da so erblickt, verrät wahrscheinlich mehr als stundenlange Gespräche bei Rotwein und Kerzenschein. Es ist einfach so, dass wir unser kleines Stück Privatsphäre, von der Besenkammer, die ein WG-Zimmer darstellen soll, bis zur Penthouse Wohnung mit Whirlpool – ob absichtlich oder nicht – zu einem Ausdruck unserer Individualität werden lassen und das bedeutet doch heute eigentlich nichts Anderes als eine Ansammlung unserer Probleme. Hat nicht auch schon Sigmund Freud gesagt: „Zeig mir wie du wohnst, und ich sag dir wie du tickst“? Ok, hat er nicht, könnte er aber!

Chaos im Nacken, Chaos im Blick

Wenn ich also mit diesen Gedanken im Kopf aus meinem Fenster im Erdgeschoss über die Straße blicke, sehe ich in die unterschiedlichsten Lebensausschnitte, da gibt es die Großfamilie im Erdgeschoss, die scheinbar dauernd Gäste hat und immer am Essen ist, da gibt es das junge Pärchen mit kleinem Kind, das verständlicherweise komplett überfordert wirkt oder die Studenten-WG, die auch ein Messiehaushalt sein könnte. Auf jeden Fall haben alle diese Leben scheinbar eines gemeinsam – sie bezeugen großartige Kompliziertheit. Es ist doch beruhigend, wenn ich da so aus meinem eigenen Fenster blicke, mein eigenes Stück Chaos im Rücken, das Chaos von Fremden im Blick.

Aber es gibt eine Sache, die macht mich fertig. Ein Fenster in meiner Straße ist anders, dahinter herrscht immer Ordnung. Das fängt schon bei den Möbeln an, alles in Weiß und Edelstahl gehalten, nichts Überflüssiges weit und breit, kein Fleck auf der Ledercouch. Diese Perfektion ist Provokation. Sie ist eine Manifestation all dessen, was uns normalen Menschen nie gelingen wird: ein bisschen Kontrolle über unser Leben zu haben.

Das Scheitern der anderen

Und ja, da mag jetzt vielleicht der Neid sprechen, aber der oder die Bewohner*in dieses Objekts meiner Schande, kann, wenn Freud recht haben sollte, nicht ganz dicht sein. Ich kann mir einfach nicht anders erklären, wie man sonst in der Lage ist, all die Verpflichtungen des Alltags, all die emotionalen Unfälle, Freuden und Tragödien zu verarbeiten und gleichzeitig auch noch einen perfekten Haushalt zu führen. Irgendwo muss doch Gerechtigkeit herrschen, diese zur Schau gestellte Perfektion muss eine dunkle Seite verbergen. Und eines Tages wird diese perfekte Person einen Fehler machen, und dann werde ich da sein, um es der Welt mitzuteilen.

Es ist doch beruhigend, dass es noch normale Menschen auf dieser Welt gibt, die wie ich, ihre Zeit damit verbringen, uns vor solchen potenziellen Psychopat*innen zu beschützen. Ihr müsst mir dafür nicht einmal danken.

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1 Response

  1. Judith sagt:

    Geniale Sichtweise…und sehr beruhigend! Danke

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