»Prokrastinieren kann ein Widerstand gegen ein Leben sein, das ich nicht führen will«

Hausarbeiten, Referate, Klausurlernen – das machen die meisten lieber Übermorgen oder am Tag danach… oder danach. Was gegen Prokrastination hilft, erklärt Brigitte Reysen, die seit mehr als 25 Jahren als Psychologin arbeitet und Studierende in der psychologischen Beratungsstelle der FU berät. Von Julian von Bülow.

Das Studium kann ganz schön stressen. Illustration: Lena Leisten

FURIOS: Wieso schieben Studierende Aufgaben exzessiv auf?

Reysen: Bei vielen Aufschieber*innen steht im Hintergrund der Unwille, sich zu eng zu organisieren, den Alltag zu strukturieren. Das ist in Ordnung, wenn ich damit langfristig mit mir selbst im Einklang bin. Ich kann gute Leistungen bringen, ohne jeden Morgen um sieben Uhr mit ausgereiften Tagesplänen aufzustehen. Problematisch wird Aufschieben als Gewohnheit erst, wenn wichtige Dinge nicht mehr geschafft werden.

Mache ich mir das Leben leichter, wenn ich Dinge aufschiebe?

Nicht langfristig. Auf den ersten Blick wirken Aufschieber*innen entspannter, zum Beispiel, wenn sie ihre Ausweichmechanismen schildern: Bevor ich lerne, räume ich erstmal die Wohnung auf, esse etwas Gesundes, stelle vielleicht einen ganzen Ernährungsplan auf. Das wird dann oft mit einem Augenzwinkern berichtet. Dahinter steckt aber viel Leid. Denn das Gefühl der Entlastung durch das Aufschieben hält nicht lange. Das schlechte Gewissen wird immer größer, denn man hat nicht das getan, was geplant war. Wenn ich mich kontinuierlich als eine Person erlebe, die ihre Ziele nicht erreicht, hat das letztlich negative Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein.

Was kann ich gegen das Aufschieben tun?

Wer nicht mehr aufschieben will, muss herausf inden, was ihr*ihm wichtig ist und wie er*sie leben möchte. Wenn ich mir schon oft vorgenommen habe, einen Fachtext zu lesen, das aber nicht schaffe, kann das ein Zeichen dafür sein, dass mich das Studienfach nicht interessiert. Dann kann Prokrastinieren auch ein Widerstand gegen ein Leben sein, das ich nicht führen will.

Was, wenn ich das als Problem ausschließen kann?

Dann hat sich, wie in den meisten Fällen, das Prokrastinieren zur Gewohnheit entwickelt. Viele Versuche, sich davon zu lösen, sind nicht erfolgreich gewesen und gute Vorsätze hat man schon wiederholt aufgegeben. Die Erfahrungen des Scheiterns haben das Verhalten verstärkt und der Glaube daran, dies ändern zu können, wird immer schwächer.

Wie kann ich das ändern?

In der Beratung setzen wir bei der Stärkung der erlebten Selbstwirksamkeit an. Die Studierenden sollen wieder erleben, wie es ist, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Da ist es gar nicht wichtig, ob sich dies auf das Lernen oder auf andere Bereiche des Lebens bezieht. Wichtig ist, dass die Lebensqualität steigt und ich die Erfahrung mache, wie ich mein Leben positiv beeinflussen kann. Denn wir ändern unser Verhalten in der Regel nicht aufgrund des Drucks, sondern weil wir erleben, dass wir mit einer neuen Gewohnheit besser leben können. Daher rate ich in der Einzelberatung und in den Gruppen den Studierenden, möglichst viel Neues auszuprobieren: Neue Techniken, Lernorte und neue Arbeitsabläufe. Ich fordere sie auf, darüber nachzudenken, was sie nicht aufschieben. Das gibt wichtige Anregungen dazu, was sie brauchen, um erfolgreich zu sein. Warum schaffe ich es, regelmäßig Gitarre zu spielen, aber nicht regelmäßig zu lernen? Was macht das Gitarrespielen attraktiver? Was kann ich auf mein Studium übertragen?

Auch ohne ständiges Aufschieben kann ich unter Stress stehen. Weshalb sind Leute gestresst, die zu Ihnen kommen?

Da sind Erst- und Zweitsemester, die es von der Schule gewohnt sind, mit Stundenplänen zu arbeiten. Den packen sie sich zu voll, unterschätzen das Arbeitspensum oder überschätzen sich selbst. Aber auch Studierende in höheren Semestern halsen sich zu viel auf. Manche zweifeln auch ohne Prokrastinationsverhalten an ihrer Studienwahl. Andere fühlen sich durch Zeit- und Geldnot oder innere Ansprüche wie Perfektionismus zu sehr unter Druck gesetzt. Dazu können Probleme im persönlichen Umfeld kommen.

Was kann ich gegen meinen Stress tun?

Zunächst: Die Ursachen des Stresses ermitteln – da hilft manchmal ein Blick auf den Tagesablauf. Eine realistische Arbeitsplanung kann schon erste Erfolge bringen. Wer bislang nur wenig schriftlich festgehalten hat, bekommt von mir den Vorschlag, Tagesprotokolle anzufertigen, die wir in einem weiteren Gespräch gemeinsam auswerten. Dabei geht es nicht nur darum, die Zeit effektiver auszunutzen, sondern herauszufinden, was mir Kraft und Entspannung gibt. Gerade bei Studierenden, die sehr selbstkritisch sind, ist es wichtig, den Blick auf das Erreichte zu lenken. Daher nenne ich solche Tagesprotokolle auch häufig Erfolgsjournale.

Wie kann gestressten Studierenden noch besser geholfen werden?

Stress entsteht oft, wenn die zu erledigenden Aufgaben als zu schwierig, zu unübersichtlich oder zu zahlreich erlebt werden und man sich als Einzelne*r in dieser Situation allein gelassen fühlt. Mehr Überschaubarkeit über die geforderten Studienleistungen und unterstützende Maßnahmen zur Studienorganisation können viel Stress mindern. Etwa durch Vermittlung von geeigneten Arbeitstechniken zu Beginn des Studiums oder Kleingruppenarbeit. Die gibt Studierenden die Sicherheit, nicht allein zu sein. Mit den Mentoring-Programmen der FU hat sich da schon viel gebessert.

Sie arbeiten jetzt schon seit mehr als 25 Jahren als Beraterin an der FU. Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit?

Ich mag den Kontakt mit jungen Menschen in dieser Lebensphase, in der noch so vieles unklar ist. Es ist immer wieder spannend, an der Beantwortung von Fragen wie »Wie möchte ich leben?«, »Was ist mir wirklich wichtig?« oder »Wer möchte ich sein?« mitzuwirken.

Welcher Beratungsfall bleibt Ihnen dabei in Erinnerung?

Da fällt mir ein junger Mann ein, der sehr gestresst war und sich wie ein Hamster im Laufrad fühlte. Er wirkte krank, hatte Schlafprobleme und wollte Tipps und Tricks, wie er seine Arbeit besser bewältigen kann. Ich fand es sehr schön, wie er im Gespräch in der Gruppe ins Nachdenken kam. Im Laufe des Stress-Workshops hat er dann einen Auslandsaufenthalt geplant, weil er das Gefühl hatte, er müsse mal raus. Wir spürten, dass er immer offener und lockerer wurde und als er im Kurs einmal zugab, etwas nicht geschafft zu haben, gab es Applaus – er hatte Prioritäten gesetzt. In der Nachbesprechung ein Jahr später war er wesentlich glücklicher, das Studium gefiel ihm besser. Zu Beginn war ihm die Frage »Warum machst du das alles?« viel zu viel, doch am Ende schien er zu sich selbst gefunden zu haben.


Das Angebot der Beratungsstelle findet ihr hier.

Autor*in

Julian von Bülow

interessiert sich für Politik, Geschichte und Technik. Freier Journalist für Text, Audio und Video. Auf Mastodon und Bluesky erreichbar.

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