Zwang der goldenen Zwanziger

So viel Freizeit und Möglichkeiten wie zu Studienzeiten werde ich wahrscheinlich nie wieder haben. Um mich herum haben alle scheinbar die beste Zeit, und ich spüre nur den Druck.

Genüsslich ziehe ich an einer Zigarette und schaue gen Himmel. Der Rauch, den ich wieder ausatme, steigt wolkenartig empor. Ich fröstel, ziehe noch ein letztes Mal an der Zigarette. Dann scheuche ich meine Katzen nach drinnen und schließe die Balkontür. Mit meiner Kuscheldecke über den Schultern tapse ich leisen Schrittes zu meinem Sofa und lasse mich in die weichen Kissen fallen.

Hier auf der Couch liegt mir die Welt zu Füßen. Vor lauter Möglichkeiten sehe ich die Freiheit, aus ihnen zu wählen, nicht mehr. Meine ellenlange To-do-Liste und mein innerer Schweinehund halten mich gefangen und rauben mir jede Kraft. Ich könnte unmotiviert meine Hausarbeit schreiben oder energielos durch Instagram scrollen, das überfüllt ist von Fotos meiner Freund*innen, die reisen, die feiern, die scheinbar glücklich sind. Und doch tue ich nichts davon. Mein Blick wandert auf die weiße Wand. Auf ihr blitzen Bilder auf, wie von einem Beamer projiziert: Mein 18-jähriges Ich, das heulend zwischen Abiturvorbereitung und Umzug nach Berlin seine erste Panikattacke hat, den Teddy eng im Arm; als ich während der Corona-Pandemie verzweifelt und alleine meinen ersten Verdacht auf eine depressive Störung äußere, der sich im Laufe meines Lebens bestätigen wird. Ich vor einem Monat auf Reisen durch Osteuropa, alle Sorgen und Ängste in meinem riesigen Rucksack. Hier in meiner Wohnung – noch dieselbe Person wie vor meiner Reise – liegt mir die Welt zu Füßen, und dennoch, oder gerade deswegen, weiß ich nicht, wohin mit mir.

Die rosarote Brille der verschönerten Erinnerungen auf meiner Nasenspitze

Mit der Freiheit wächst der Druck. Druck, man selbst zu sein. Druck, Erfahrungen zu sammeln. Druck, sich für einen Lebensweg zu entscheiden. Ich höre die Stimme meiner Tante in das Ohr meines 18-jährigen Ichs flüstern: »Die freie Zeit vor dem Studium wird die Beste deines Lebens.« Mein Vater wispert mir zu: »Das Studium war die fantastischste Zeit meines Lebens.« Ich zucke zusammen, wedle mit meinen Händen panisch über meinem Kopf, als könnte ich damit die Gedanken verscheuchen. Sie sollen leise sein. Doch selbst in meiner leeren Wohnung tosen sie laut. Sie schreien mich an: Geh endlich raus! Übertreffe dich selbst! Geh reisen! Tanz unter Alkoholeinfluss auf einer Party, an die du dich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern wirst! Und stärke die Bindung zu deinen Freund*innen, die dich ansonsten vergessen werden!

Zwischen all den Gedanken frage ich mich: Kann ich nicht einfach im Hier und Jetzt etwas Me-Time genießen? Ohne den Zwang, aus meinen Zwanzigern die beste Zeit meines Lebens zu machen? Denn das wäre eine seltsam traurige Prognose: Wenn das hier meine beste Zeit bleibt. Meine Zwanziger führen mich bisher vor allem zu einem: dem Umgang mit schwierigen Phasen. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen prägte meine letzten Jahre. Eine Krise kommt selten alleine. Aber ich lerne, damit umzugehen und dabei unweigerlich auch mich selbst kennen. Ganz automatisch. Ganz ohne Druck, der mich als Overthinkerin ohnehin nur ausbremst. Dementgegen wirken heilende Gespräche mit Gleichaltrigen, die gerade ebenfalls ihren Lebensweg erst so richtig bestimmen, in denen wir alle Gedanken und Handlungen bei einem Gläschen Wein reflektieren. Denn hier besteht ein Kausalzusammenhang: Zur Selbstoptimierung gehören auch schlechte Zeiten. Zeiten, aus denen man klüger hervorgeht. Und Fehler, nach denen man sich schwört, diese bloß nie wieder zu machen. Bevor es besser wird, muss es erst dreckig werden, bla bla bla. Und damit meine ich nicht »what doesn’t kill you, makes you stronger« – denn ein Trauma hat noch niemandem gut getan –, sondern innere Dämonen freizulassen. Auch wenn mich das in den nächsten zehn Jahren noch nicht in den Himmel hebt, freue ich mich auf diese kommenden Abschnitte meines Lebens. Und vielleicht blicke ich dann auch auf meine Zwanziger zurück, die rosarote Brille der verschönerten Erinnerungen auf meiner Nasenspitze und denke mir: Das war schon eine verdammt geile Zeit und so viel Freizeit hätte ich gerne nochmal!

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