„White folks don’t understand”

Die USA der 1920er: Die Segregation hat BPoC und Weiße stark gespalten. Das neue Netflix-Original Ma Rainey’s Black Bottom zeigt auf dramatische Weise die Lebensrealitäten zweier Schwarzer Künstler*innen. Eine Rezension von Elias Fischer.

Ma Rainey blickt der Wirklichkeit ins Auge. Foto: David Lee/NETFLIX

Versteckt in einem Wald mitten in Georgia (USA) drängt sich aufgeregt eine Gruppe BPoC in einer Schlange vor einem beleuchteten Zelt, aus dem eine tiefe, angenehm wummernde Stimme ertönt. Die Kamera gleitet sanft an den Wartenden vorbei durch den Eingang und führt direkt zur Quelle der Stimme: eine voluminöse Frau mit schweißnasser Haut und verlaufenem Make-Up, die leidenschaftlich ihren „Black Bottom” preist, ihn sanft schwingt. Es ist Gertrude „Ma” Rainey (Viola Davis), die Mutter des Blues und Namensgeberin des Films Ma Rainey’s Black Bottom. Doch anders als der Titel suggeriert, ist das Netflix-Original unter Regie von George C. Wolfe (Das Glück an meiner Seite) keineswegs eine Biografie, sondern ein melancholisch-theatralisches Spiegelbild der späten 1920er in den Vereinigten Staaten, in denen BPoC unter der Rassentrennung litten und von Weißen ausgebeutet wurden.

Ma schwimmt auf der Welle des Erfolgs, sogar Weiße lauschen ihrer Musik, weswegen sie von ihrem weißen Manager Irvin (Jeremy Shamos) 1927 nach Chicago gelotst wird. Dort soll sie gemeinsam mit ihrer vierköpfigen Band im Studio des weißen Musikproduzenten Mel Sturdyvant (Johnathan Coyne) neue Platten aufnehmen.

Die ausgehenden 1920er sind die Jahre nach der großen Migrationswelle europäischer Arbeiter*innen, aber eben auch die der race music, anhand derer in diesem Film auf ganz drastische Weise eines gezeigt wird: die Ausbeutung der BPoC, auch in der Kunst. „All they want is my voice”, flucht Ma in Abwesenheit Irvins und Sturdyvants; vergleicht sie mit Freiern, für die sie ab dem Moment, in dem die Songs aufgenommen sind, keinen Nutzen mehr habe. Ma aber ist standhaft: Wenn sie schon die Hure ist, dann regelt sie zumindest den Verkehr.

Es ist ein schwermütiger, damals wie heute brandaktueller Monolog, in dem die Schauspielerin Viola Davis Mas Verzweiflung ebenso stark wie ihren Stolz interpretiert. Es sind die Elemente des Blues, die Weiße nicht nachfühlen können. Da ist die Demütigung, die BPoC täglich erfuhren und erfahren, und da ist die Kraft, sich zu wehren. So prangert sie an: „White folks don’t understand about the Blues. They hear it come out, but they don’t know how it got there.”

Stur und Drang

Ma wirkt durch ihre Sturheit und ihren Stolz oft wie eine Einzelkämpferin, ähnlich wie der zweite, vielleicht sogar heimliche Protagonist des Films und Gegenspieler Mas, Leeve Greene (Chadwick Boseman). Er ist der etwas großspurige Trompeter der Band, ein musikalisch talentierter Schwarzer Mann mit einem Maß an Selbstüberzeugung, das zuweilen unangenehm ist. Er improvisiert Mas Songs gegen ihren Willen nach Lust und Laune, komponiert eigene, übergibt sie Sturdyvant, in der Hoffnung, diese mit einer eigenen Band aufnehmen zu können.

Hinter seinem Drang nach Erfolg steckt jedoch eine bewegende Lebensgeschichte: Mehrere weiße Männer vergewaltigten seine Mutter. Leeve trägt als Andenken an das traumatische Erlebnis quer über die Brust eine Narbe, die ein Weißer ihm beim Versuch, seine Mutter zu verteidigen, mit dem Messer zufügte. Doch aus dieser Erfahrung schöpft er den Glauben, keine Angst vor Weißen zu haben, zu wissen, wie man mit ihnen umgeht.

Fürs Theater gemacht

Die energische, jugendliche Naivität Leeves steht dem harschen Realismus Mas gegenüber. Leeve sieht in der Produktionsfirma die Tür zum Erfolg und zur Welt – der Schlüssel ist die Musik. Ma hingegen weiß um die Ausbeutung, es spricht fast eine Ohnmacht aus ihr. Die Spannung wird besonders greifbar in Mas und Leeves unzähligen Monologen, deren Kontrast durch die Beschränkung auf zwei Spielorte verstärkt wird. Während Ma im Tageslicht durchfluteten Aufnahmeraum, der Realität ins Auge blickend, ihren Unmut kundtut, bleibt Leeves Enthusiasmus im untergeschössigen Proberaum der Wirklichkeit fern.

Das minimalistische Setting des Films, der ursprünglich von August Wilson für die Theaterbühne geschrieben wurde, sorgt für durchgängige Intensität, erlaubt die hautnahe Beobachtung der Leiden und Freuden von BPoC in den USA der 20er. Davis sowie Boseman leben die Emotionen, als seien es ihre eigenen, wenn sie vor der Kamera – wie auf der Theaterbühne vorm Spotlight – wiederholt das zentrale, ja sogar einzige lebendige Element sind. Der Soundtrack tritt für ein Musikdrama hingegen etwas in den Hintergrund, was daran liegen mag, dass der Film keine Biografie der Mutter des Blues Gertrude Rainey, sondern das Abbild einer ehemaligen und teils noch bestehenden Realität von  BPoC ist. So ist Ma am Ende die Hure, die immerhin entsprechend bezahlt, aber Leeve derjenige, der von Sturdyvant um seine Songs betrogen wird.


Ma Rainey’s Black Bottom, seit dem 18.12.2020 auf Netflix abrufbar

Autor*in

Elias Fischer

Seine Männlichkeit passt nicht ganz in den Bildausschnitt.

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