Ohne Happy End, aber voller Hoffnung

Zwei Welten treffen aufeinander, als Gwen und Charles sich kennenlernen. Der Roman Unsere anarchistischen Herzen beschreibt die Freundschaft zweier Mädchen, die sich im Leben nicht zurecht finden, doch zusammen ihre verlorene Kraft wiedererlangen. Eine Rezension von Aikaterini Mouzaki.

Journalistin und Schriftstellerin Lisa Krusche feiert mit Unsere anarchistischen Herzen ihr literarisches Debüt. Bildmontage/Foto: Charlotte Krusche, Illustration: Joshua Liebig.
Journalistin und Schriftstellerin Lisa Krusche feiert mit Unsere anarchistischen Herzen ihr literarisches Debüt. Bildmontage/Foto: Charlotte Krusche, Illustration: Joshua Liebig.

Gwen: Immer mit Menschen zusammen, aber immer einsam 

Gwen lebt in Hildesheim. Ihre Eltern sind reich, oberflächlich und distanziert. Deswegen ist es für sie zu Hause immer “kalt”, wie sie selbst sagt. Der Wohlstand und Materialismus ihrer Eltern widert sie an. Zwar ist immer Besuch da, sogar der Bürgermeister, aber die geführten Diskussionen drehen sich nur um Geld und Status. Einmal wird sie sogar von einem Freund ihres Vaters unangemessen berührt, aber selbst dieser Übergriff wird gleichgültig hingenommen. Mit ihrem Bruder versteht sie sich auch nicht, obwohl sie sich eigentlich gern haben und beide tieftraurig wegen ihrer Eltern sind. Ihre Trauer und ihren Hass ihren Eltern gegenüber drückt Gwen rebellisch aus: Die Markenkleidung tauscht sie gegen einen Ghetto-Style, ihre Haare schneidet sie sich ab, schlägt sie sich auf der Straße und geht mit Typen aus, die nicht nett sind, ihr nicht gefallen, und die sie beim Sex bestiehlt. Ihr Aufstand beschränkt sich jedoch auf die Außenwelt; zu Hause irrt sie wie ein hilfloses, stummes Gespenst umher.

Charles: Für alle da, aber niemand für sie

Charles wohnt mit ihrer Familie in Berlin. Schon als Kleinkind  musste sie sich um sich und ihren jüngeren Bruder kümmern, weil ihre Eltern in ihrer eigenen Welt lebten. Sie sorgt sich um ihren Vater, der als Künstler immer wieder Probleme mit Drogen und Alkohol  hat. In der Vergangenheit ist Charles mehrmals ihrem nackten Vater hinter gelaufen oder hat ihn, von einer Krise durchschüttelt, auf dem Boden gefunden. Als es mit ihm unerträglich wird, entscheidet ihre Mutter, dass die Familie in eine Hippie-Kommune in der Nähe von Hildesheim umzieht. Somit muss Charles ihren besten Freund und einzigen Unterstützer, Gustav, sowie ihr geliebtes Berlin verlassen. In Hildesheim ist das Leben in der Kommune voller Absurditäten. Im Gegensatz zu Gwen äußert Charles immer ihre Meinung, kritisiert ihre Mitbewohner*innen aus der Kommune und hat keine Angst vor Streit. Ihre Einsamkeit bewältigt sie mit Humor, indem sie sich mit einem Oktopus-Kuscheltier und ihrem Hund diskutiert. 

Eine traurige, unbeschwerte Geschichte  

Jugendliche und Studierende können sich wahrscheinlich leicht mit den Hauptfiguren Charles und Gwen identifizieren. Wer noch bei den Eltern wohnt oder erst kürzlich ausgezogen ist, kennt die Generationen- und Kommunikationsprobleme. Doch Lisa Krusches 444-seitiger Debütroman ist empfehlenswert für Menschen jedes Alters. Es wird nicht langweilig, der Geschichte zweier gequälter Seelen zu folgen, die sich vom ersten Augenblick an platonisch lieben. Gwen und Charles entwickeln eine unzertrennliche Freundschaft trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen familiären Hintergründe und den gemeinsamen existentiellen Gedanken. Gemeinsam sind sie unbesiegbar, denkt Charles und sagt auf einer der letzten Seiten: ,,Wir sind so gottverdammt begabt in alle Richtungen, wir könnten wirklich einmal die Welt regieren, aber wir werden es nicht wollen, wegen unserer anarchistischen Herzen.”

Die Autorin hat ein Geschick dafür, viele Charaktere und ihr Innenleben durch Gespräche und Situationen lebendig zu Papier zu bringen. Dabei kommen sozialpolitische Themen nicht zu kurz und auch die Schwierigkeiten des Eltern-Daseins werden mit überraschender Klarheit dargestellt. Auf eine abenteuerliche Handlung verzichtet der Roman, die Spannung entwickelt sich eher aus der Tiefe der Charaktere heraus. Krusche möchte keine Story mit Happy End erzählen, sondern zeigen, dass man auch in den schwierigsten Umständen Lichtblicke finden kann. Obwohl man sich die Familie bekanntlich nicht aussucht, kann man sie nach eigenen Wünschen erweitern. 

Sie wagt stilistisch einige Experimente, indem sie einerseits eine poetische Sprache verwendet und andererseits umgangssprachliche, alltägliche Diskussionen ausführt – auch durch die Wiedergabe von Chat-Verläufen. Obwohl die häufigen Perspektivwechsel es hingegen manchmal erschweren, der Handlung zu folgen, liegt darin auch ein gewisser Reiz. Anfangs sind die beiden Protagonistinnen nicht immer leicht zu unterscheiden. Das erweckt manchmal den Eindruck, als sei es der Autorin nicht gelungen, den Figuren authentische Eigenständigkeit zu verleihen. Aber im Verlauf des Romans stellt sich diese Ähnlichkeit als gewollt heraus, da so ihre Seelenverwandtschaft zur Geltung kommt. 

Krusche ist in ihrem Roman eminent politisch, da ihre Protagonistinnen sowie andere Hauptfiguren direkt und indirekt ihre Weltanschauungen äußern. Die Familien beider Mädchen repräsentieren zwei Pole, die Krusche bildhaft darstellt. Die Autorin wirkt aber vor allem kritisch und menschlich, indem sie die Geschichte zwei gepeinigter Seelenverwandter erzählt, die aus unterschiedlichen Welten kommen und vom Universum zusammengebracht werden, um einander dabei zu helfen, voller Hoffnung weiterzuleben. 

Unsere anarchistischen Herzen erschien am 28.04.2021 im Fischer-Verlag. 

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.