„Was würden Sie selbst tun?“

Kann das Leben eines Menschen wertvoller sein, als das eines anderen? Eben dieses moralische Dilemma beschäftigt Ferdinand von Schirach in seinem Essay Die Würde ist antastbar, und wirft bei Lisa Damm in unserer Rubrik Bücherbingo weitere Fragen auf.

Der Essayband Die Würde ist antastbar des renommierten Schriftstellers Ferdinand von Schirach diskutiert große Fragen der Moral und Werte unserer Gesellschaft. Schirach, nicht nur Schriftsteller, sondern auch Jurist, ist mit dem problematischen Umgang von Schuld und Unschuld vertraut. So beschäftigt er sich  in seinem Essay auch mit der Frage, wie und ob ein schuldiger und ein unschuldiger Mensch in ihrer Wertigkeit vergleichbar sind. Sind wir und insbesondere die Regierung dazu fähig, Art. 1 des Grundgesetzes, also den Respekt vor der Würde eines anderen Menschen, einzuhalten?

Schirach steigt in seinem Essay mit dem Beispiel des Kanzlerduells zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück aus dem Jahr 2013 ein. In Anbetracht der jüngsten Wahlen und den vorangegangenen Triellen der letzten Kanzlerkandidat*innen kann so ein Bezug zur Gegenwart hergestellt werden und auch jüngere Leser*innen haben ein Bild vor Augen – und je nachdem ein Schmunzeln im Gesicht oder Tränen in den Augen. Das Beispiel dient Schirach dazu, die Frage nach der Verantwortung und Handlungsfähigkeit von Regierenden wie Barack Obama oder Merkel zu stellen, die es 2011 befürwortet haben, dass der Terrorist Osama Bin Laden erschossen wurde. Steht die Regierung mit ihrem Urteil über den Menschenrechten anderer? Und wenn ja, sollte das wirklich so sein?

Dürfen wir überhaupt jemals entscheiden?

Gleich zu Beginn des Essays wird deutlich, dass Schirach sich gegen jegliches Abwägen unterschiedlicher, unschuldiger Menschenleben positioniert. Für ihn sollte kein Menschenleben mehr wert sein als ein anderes ob es sich nun um einen älteren, kranken oder einen jüngeren, vitalen Menschen handelt: Leben ist Leben. Dennoch lösen die angeführten Beispiele eine innere Diskussion aus und sogleich fragt man sich: Wie würde ich es machen? Auch Schirach stellt uns die Frage: „Was würden Sie selbst tun?“.

Für Schirach ist bei der Schuldfrage nicht nur die Art des Menschen, sondern auch die Anzahl der Menschenleben irrelevant. Doch würden wir nicht instinktiv 5000 über fünf Menschenleben stellen? Oder würden wir unseren guten Freund retten, auch wenn wir dafür eine unschuldige, uns fremde Person indirekt töten müssten? Werden wir nicht, wenn wir nach Schirach handeln, handlungsunfähig?

Wir erfahren aus dem Essay, dass Art. 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht verändert werden darf, solange das Grundgesetz als solches besteht. Es besitzt eine „Ewigkeitsgarantie“. Schirach nennt dieses Grundgesetz „falsch“ und zweifelt seine Umsetzung an. Die Würde sei hierbei auf die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt zurückzuführen. Ein menschliches Wesen sei, laut Verfassung, durch sein Menschsein bereits „Subjekt und besitzt Würde“. Demnach wird laut Schirach die Würde bereits dann angegriffen, wenn über einen Menschen ohne dessen Einwilligung entschieden wird, könne dies der Verfassung nicht gerecht werden. Der Subjektstatus würde diesem Menschen somit entzogen. Schirachs Verständnis der Menschenwürde führt unweigerlich zu der Konsequenz, dass über kein Menschenleben entschieden werden darf.  

Alles eine Frage der Interpretation?

Schirach beurteilt die Handlungen von Obama, Merkel oder anderen, die das Grundgesetz in einer Gefahrensituation missachtet haben, als Fehlverhalten. „Mit den Rechten des Menschen ist es […] wie mit der Freundschaft. Sie taugt nichts, wenn sie nicht auch und gerade in den dunklen, in den schwierigen Tagen bewährt.“

Die Fragen die Schirach aufwirft sind wichtig und müssen diskutiert werden. Dennoch bleiben einige Aspekte offen, die es erschweren, konkret Stellung zu ihnen zu beziehen. Wo beginnt eigentlich die Würde des Menschen und wo hört sie auf? Im Essay wird der Akt des Tötens, Folterns und der Überwachung behandelt. Wie sieht es jedoch bei weniger extremen Entscheidungen aus, die über uns als Menschen getroffen werden? Meint Schirach jegliche Entscheidungen und ist dann nicht bereits eine Quarantäne als Verachtung der Menschenwürde zu werten? 

Doch eben dies problematisiert Schirach, indem er eine Urteilsbegründung zitiert, die den Fall von gestrandeten Schiffsleuten kommentiert, die für ihr eigenes Überleben einen kranken Jungen verspeisen. „Wir werden häufig dazu gezwungen, Standards aufzustellen, die wir selbst nicht erreichen, und Regeln festzulegen, die wir selbst nicht befriedigen können […].” 

Der Mensch ist nicht dazu fähig, die eigenen Werte ständig aufrechtzuerhalten. Wir und insbesondere die Regierenden sind nicht, wofür wir uns halten und schaffen nicht, was wir von uns selbst erwarten. Müssen wir also einfach akzeptieren, dass die Würde des Menschen andauernd beschnitten wird? Oder ist dies ein Appell an uns, anders zu denken? 

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