Dorothee Elmiger ist in diesem Semester Gastprofessorin am Peter Szondi-Institut für Literaturwissenschaft. Im Gespräch mit FURIOS erzählt sie von ihren Erfahrungen an der FU, ihrem Schreibprozess und ihren Plänen und Wünschen für die Zeit als Dozentin. Carl Friedrichs und Lisa Damm berichten.
In den gläsernen Vitrinen vor den Räumen des Peter Szondi-Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sind zurzeit einige Bücher von Dorothee Elmiger ausgestellt, darunter das jüngst erschienene Aus der Zuckerfabrik. Neben dem Eingang des Instituts hängt ein Plakat, das über die Gastprofessur der jungen schweizer Autorin informiert – und aus eben jenem Eingang tritt Dorothee Elmiger nun heraus, trotz Maske erkennbar lächelnd, bietet uns das Du an und geht voran in ihr Büro.
Elmiger hat in diesem Semester die Samuel Fischer-Gastprofessur am Peter Szondi-Institut inne, eine seit 1998 bestehende Stelle, im Rahmen derer seither zahlreiche Autor*innen an die Freie Universität eingeladen wurden. Dass Elmiger eine davon werden sollte, hat sie gefreut: „Ehrlich gesagt war ich sehr überrascht. Ich dachte: Das ist ja eine tolle Einladung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte.“
Rückkehr an die FU nach vermeintlichem Scheitern
Zwar ist es Elmigers erste Gastprofessur, doch die FU ist ihr nicht ganz unbekannt. Sie hat einige Semester am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften (OSI) studiert und erinnert sich lebhaft an diese Zeit – obwohl oder gerade weil sie dort keinen Abschluss gemacht und andernorts fertig studiert hat. „Ich hatte damals irgendwie das Gefühl, am OSI ein bisschen gescheitert zu sein. Deshalb ist es sehr schön und gleichzeitig auch verwirrend, jetzt wieder hier zu sein in dieser Rolle der Professorin.“
„Es war auch die Zeit, der Studierendenproteste gegen die Bologna-Reform und weitere Entwicklungen im Bildungswesen – das war schon eindrücklich. Ich habe viele tolle Erinnerungen daran“, sagt Elmiger und fügt lachend hinzu: „Ich spreche darüber, als wäre es schon 30 Jahre her, so lange ist es noch gar nicht!“
Elmigers vermeintliches Scheitern im frühen Studium ist lang passé. In der Zwischenzeit wurde sie vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und wird heute vom Peter Szondi-Institut als „eine der vielversprechendsten und ästhetisch anspruchsvollsten Nachwuchsschriftstellerinnen“ vorgestellt. Doch die Rolle als Dozentin wirft neue Fragen für sie auf: „Kann ich als Autorin überhaupt in dieser Rolle auftreten? Habe ich etwas zu erzählen? Und was? Gibt es überhaupt Gewissheiten für mich in der Literatur, im Schreiben? Oder habe ich nicht selbst vor allem sehr viele Fragen?“
Gedankenaustausch als kollektives Unterfangen
Vor allem Letzteres schien in ihrer Seminarplanung ausschlaggebend gewesen zu sein. „Ich habe bald gemerkt, dass ich gar nicht versuchen will, eine Professorin zu sein, in dem Sinne, dass ich mich vorn hinstelle und doziere; dass ich eben nicht hierherkommen und erzählen kann, was ich mir alles schon überlegt habe und was ich so weiß, sondern dass ich mit meinen eigenen Fragen kommen möchte. Mit echten Fragen – Fragen, die mich umtreiben.“ Eine Zusammenarbeit mit Studierenden solle es sein, ohne Hierarchien, ein Gedankenaustausch als kollektives Unterfangen. Darauf freut sich Elmiger: „Als Autorin bin ich so oft allein, arbeite allein und wünsche mir oft, viel öfter diese Gespräche zu führen.“
Anregende Gespräche verspricht auch der Titel des Seminars Dokument und Erfindung: Der Fiebertraum im toten Winkel der Geschichte. Dabei soll es auch um Themen gehen, die sich Elmiger während der Lektüre von dokumentarisch arbeitender Literatur geradezu aufgedrängt haben; darunter der Luftkrieg, die Sklaverei, die sogenannte behördliche „Verwahrung“ von Menschen. Dabei sei ihr aufgefallen: „Es liegt in der Natur von behördlichen, offiziellen Dokumenten, dass sie gewisse Perspektiven und Erfahrungen aussparen.“
„Wie können diese Stimmen erfunden werden? Können diese Lücken gefüllt werden? Oder ist das eine völlige Anmaßung, im Nachhinein für jene, die verschleppt, versklavt und umgebracht wurden, Stimmen zu finden?“ Inhaltlich bietet das Seminar noch mehr: „Wir lesen aber auch Texte, die bis in die Gegenwart reichen. Also zum Beispiel solche, die mit dem Internet als Gefäß für Dokumente, Tondokumente, Bilder und Videos arbeiten; auch als Ort, wo diese Dokumente produziert werden.“
Über oder gegen den Umgang mit dem Filetierbesteck
Die öffentliche Antrittsvorlesung Über oder gegen den Umgang mit dem Filetierbesteck (in der Literatur) am 10. November 2021, die online und zusammen mit Elmigers Gast Wolfram Lotz stattfand, berührte ähnliche Themen. Es ging auch um jenen namensgebenden Fiebertraum zwischen Dokument und Erfindung. Eine Schwierigkeit im Schreiben auf Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen bestehe in deren Fülle: „Das Sinnliche hat so eine Dichte, da hat man immer das Gefühl: Das schafft ein Text nicht.“ Diese Lücke könne Fiktion füllen. Dabei böten Dokumente, als materielle „Dinge der Wirklichkeit“, Elmiger eine doppelte Inspirationsquelle: „Diese Bücher, Dokumente interessieren mich einerseits, weil ich wissen will, was darin steht; und gleichzeitig interessieren sie mich auch als Teile der Wirklichkeit, die ich sinnlich wahrnehme.“
Trotz literarischen Könnens und Erfahrung – im Schreiben findet sie beizeiten auch Überforderung: „Ich glaube, das Gefühl kennen alle. Wenn man beginnt, sich mit einem Feld zu beschäftigen, dann gibt es nach kurzer Zeit diesen Moment, in dem man feststellt: Dieses Feld ist riesig, ich weiß nichts, ich habe nichts gelesen, ich weiß nicht, wie ich das Feld begrenzen, wie ich verfahren soll. Das ist ein Moment, den ich am Schreibtisch immer wieder erlebe, und der ist ja auch irgendwie beängstigend, verursacht Stress und ist frustrierend. Aber ich glaube, dass genau aus dieser Erfahrung heraus ganz viel passieren kann, wenn man dann nicht aufgibt und nicht einfach die erstbeste, sicherste Lösung wählt. Mir dafür die Zeit nehmen zu können, ist natürlich ein Luxus.“
Zeit und Raum für Texte
Elmiger hofft, dass ein Werkstatt-Seminar, wie sie es durchführt, den Studierenden diese Zeit bietet: „Ich versuche, auf eine gewisse Art und Weise einen Raum zur Verfügung zu stellen. Zeit und Raum für die eigenen Texte, für was auch immer reingetragen wird. Die Idee ist, dass alle einen eigenen Text oder eine Skizze in das Seminar bringen und es dann genügend Zeit gibt, um zu diskutieren und über die Fragen, die sich stellen, gemeinsam zu sprechen.“
Auch für sich selbst sieht Elmiger in der Gastprofessur vielversprechende Möglichkeiten: „Ich selbst lerne sehr viel. Ich wusste ja gar nicht, ob mir das gelingen wird, ob dieses Gespräch im Seminar zustande kommt. Das war auch für mich ein Wagnis. Ich höre jetzt jeden Mittwoch 16 Stimmen, die alle sehr interessante Beobachtungen teilen. Das ist natürlich für mich genauso toll wie hoffentlich für die anderen. Es ist immer schön, wenn Leute bereit sind, ihre Texte zu teilen.“ Dass Elmiger für dieses eine Semester an die FU zurückgekehrt ist, um ihre Gedanken und Erfahrungen zu teilen, ist sicherlich auch ein Gewinn für die Studierenden.