Gamer*innen sind in ihrem Leben schon vielfach und vielfältig gestorben. So oft, dass der Spieler*innentod im Videospiel an Bedeutung verloren hat. Das ist zu bedauern und zu ändern, findet Lisa Hölzke.
Der Lebensbalken sinkt stetig, die Feinde sind in der Überzahl und hören nicht auf, Schüsse abzugeben. Das Gefühl der Ausweglosigkeit steigt immer weiter, bis schließlich eine Null am unteren Bildschirmrand erscheint. Ein lauter Schmerzensschrei, bedrohliche Trompeten und ein schwarzes Bild. So ereignete sich der erste Tod, dem ich beiwohnte. Es war Obi-Wan Kenobi, der unter der Führung meines Bruders im Videospiel Star Wars Episode 1: The Phantom Menace das Zeitliche segnen musste.
Es sollte nicht sein letzter Tod sein. Jedes Mal flüchtete ich als Kind unter den Tisch, wenn sich eine Niederlage abzeichnete, da ich den Schrei und das unterstreichende Dröhnen der Musik kaum ertragen konnte. Erst, wenn der Spielstand neu geladen wurde, ging ich wieder in Zuschauerinposition. Wenn heutzutage eine meiner Spielfiguren stirbt, ist Frustration das höchste der Gefühle. Wann und wie begann es, dass wir als Gamer*innen dem Tod gleichgültig gegenüberstehen?
Keine Absolutheit
Der Tod der Spieler*innenfigur ist eine Lappalie, da er nicht absolut ist. Wenn Mario in den Abgrund fällt und seiner Nachwelt noch ein „Oh no!“ hinterlässt, denken Spieler*innen wohl kaum daran, dass der Held des Pilzreichs tatsächlich von ihnen gegangen ist – und sie die Schuld dafür tragen. Denn glücklicherweise werden Spieler*innen ganz einfach zum letzten Checkpoint zurückgesetzt, wo Mario in aller Frische bereitsteht. Natürlich, er weiß ja auch noch nicht, was ihm bevorsteht.
Daher haben Gamer*innen selten Mitleid mit ihren Figuren, keine Angst vor deren Tod. Was immer wieder geschieht und Teil des Prinzips des Mediums ist, verliert schnell seinen Schrecken. Im Gegensatz zu anderen Künsten, dem Film oder der Literatur etwa, verläuft ein Videospiel nicht geradlinig. Abgesehen von festen Zwischensequenzen und der Geschichte, die die Entwickler*innen erzählen wollen, leben Videospiele von der Interaktivität und Mitbestimmung der Spieler*innen. So können diese das Geschehen in einem gewissen Rahmen beeinflussen, Entscheidungen treffen, daraus Lehren ziehen und fast schon eine Katharsis erleben, wie Gerald Farca in seiner Monografie Playing Dystopia schreibt.
Augen auf für den Checkpoint
Doch das setzt voraus, dass Spieler*innen tatsächlich mit ihren Entscheidungen leben. Ein wesentlicher Bestandteil eines Videospiels ist jedoch, dass Spielstände neu geladen und Entscheidungen jederzeit geändert werden können, wenn die Konsequenzen nicht gefallen. Der selbst verantwortete Tod andere Figuren kann rückgängig gemacht, die Missgunst anderer abgewendet werden. Ob dieses Ausbeuten des Speichersystems im Sinne der Entwickler*innen ist, ist fraglich. Was jedoch selbstverständlich ist: Scheitern wir im Spiel – was in den meisten Mainstream-Titeln bedeutet zu sterben –, erhalten wir in der Regel eine neue Chance, ohne komplett von vorn anfangen zu müssen. Somit wird Dramatik zugunsten der Interaktivität, also der Funktion des Mediums eingebüßt.
Wo in der Realität die Menschen seit jeher die Frage nach dem Tod und die Furcht davor umtreibt, wird das Sterben der Spieler*innen im Videospiel also zur Nebensache. Wo in der Realität die Menschheit seit der Antike nach Richtlinien wie Carpe Diem und Memento Mori lebt, gilt im Videospiel: Gedenke des Checkpoints! Für Goethe galt: „Der Rost macht erst die Münze wert.“ (Faust. Der Tragödie zweiter Teil) Wenn der Tod das Leben erst bedeutend und lebenswert macht, kann ein Spiel dann überhaupt spielenswert sein? Oder, anders gesagt: Wissen wir das digital Erlebte wirklich zu schätzen, können wir uns mit der Spieler*innenfigur vollständig identifizieren, wenn das Ableben nichts bedeutet und Spielpassagen immer wieder durchlebt werden können?
Der Tod als Spielprinzip
Ja, das geht. Denn das Spiel im Videospiel ermöglicht es, neue Ansätze zu finden, um den (nicht inszenierten) Figurentod für ein immersives Spielerlebnis zu nutzen. Erfolgreiche Titel wie Dark Souls oder Deathloop beispielsweise lassen den Hauptfiguren bewusst werden, dass sie immer wieder sterben. Das Hauptprinzip eines Videospiels, zu sterben, daraus zu lernen und besser zu werden, wird so in das Figurenwissen eingewoben. Die Diskrepanz zwischen Spieler*innen- und Figurenwissen verschwindet.
In anderen Werken wie in Persona 5 ist das nicht der Fall, jedoch wird der Tod hier bei gewissen Fehlentscheidungen der Spieler*innen nicht zur Bagatelle. Minutenlang müssen Spieler*innen hier Zwischensequenzen Zeuge werden, in denen den Figuren langsam ihr Scheitern bewusst wird und schließlich der Tod unausweichlich ist. Erst dann lädt der letzte Spielstand. Unverletzlich wirkt die Hauptfigur plötzlich nicht mehr.
Einige wenige Spiele setzen sogar auf einen endgültigen Tod, den sogenannten Permadeath. In Watch Dogs: Legion bedeutet das, dass die Spielfigur ständig wechselt, da die Verstorbenen für immer verloren sind. In anderen Titeln bedeutet der Permadeath tatsächlich, wieder von vorn anfangen zu müssen, wie zum Beispiel in Don’t Starve. Wer hier verhungert, bleibt tot.
Der Tod muss also seine Bedeutung im Videospiel nicht verlieren. Es ist möglich, ihm Gewicht zu verleihen, so wie er auch in unserem Leben Gewicht trägt. Es ist zu wünschen, dass sich die großen Entwicklerstudios mehr mit den Möglichkeiten des Mediums Videospiel auseinandersetzen. Wir sollten uns vor dem Tod unsere Figuren fürchten und wenigstens gedanklich unter den Tisch krabbeln, wenn es wieder einmal fürs Erste heißt: Game over.