Zwischen kleinen Schlafkammern und großzügigen Gemeinschaftsräumen wollten die Architekten des Studentendorfes Schlachtensee demokratische Bürger*innen erziehen. Was ist übrig vom Anspruch des selbstbestimmten Wohnens? Eine Annäherung von Lena Rückerl.
Es ist die Idee von Freiheit, die Hoffnung auf Demokratie, der Wille, es anders als in der Vergangenheit zu machen. Reeducation nennen es die US-Amerikaner*innen als sie die Westdeutschen nach dem 2. Weltkrieg die Demokratie „lernen lassen wollen“. Ein eher unbekannter aber bis heute genutzter Teil dieses Bildungsprogramms ist das Studentendorf Schlachtensee – der Versuch, Demokratie zu bauen.
„Ein demokratischer Staat lebt davon, dass der Einzelne sich seiner selbst bewusst wird und deshalb im gesellschaftlichen Zusammensein der Menschen die bewussten Vorstellungsinhalte den gemeinschaftlichen Aufgaben die Waage halten“, führte der Jurist Adolf Arndt 1960 in seiner Rede Demokratie als Bauherr aus. Demokratisches Bauen sollte diese Ideen und jenes Menschenbild begünstigen und Orte zu ihrer Entfaltung schaffen – auch im Gegensatz zu totalitärer Architektur, wie sie während der NS-Zeit in Bauten umgesetzt wurde. In der Nachkriegsmoderne versuchten sich verschiedene Architekten an dieser Aufgabe.
So auch im Studentendorf Schlachtensee. 1959 zogen im Westberliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf die ersten Bewohner*innen ein. Heute leben knapp 900 Studierende im Studentendorf, das inzwischen den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals hat.
Das Konzept der Reeducation und des demokratischen Bauens wollten die Architekten Fehling, Gogel und Pfankuch im Studentendorf architektonisch verwirklichen. „Demokratisches Bauen ist mehr als ein Glaskasten, in dem man hineinguckt.“, erklärt Andreas Barz, Stadtplaner und Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft, die die Wohnsiedlung verwaltet. Es gehe vielmehr darum, wie Architektur ein Gesellschaftsmodell stützen oder sogar bilden helfen könne. 28 verschiedene Häuser sind lose um den Dorfplatz mit Rathaus und Gemeinschaftshaus gruppiert. Ein Kindergarten, ein Fitnessraum und der Club A18 gehören heute ebenfalls zur Anlage. Anfangs gab es sogar noch eine eigene Bibliothek und eine Mensa. Studentisches Leben in einem abgetrennten Mikrokosmos.
Die Fassaden der einzelnen Häuser sind ungleichmäßig gerastert, fast schon verspielt. Immer wieder wird der Gedanke betont, dass es um den einzelnen Menschen geht, der in der demokratischen Gemeinschaft selbstbestimmt seinen Beitrag leistet. Dieser Gedanke findet sich auch innerhalb der Häuser. Barz beschreibt ihn nach einem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 1960 mit der Wendung „Kloster und Forum“. In den kleinen Zimmern, den sogenannten Buden, solle das Studium und der Dialog mit sich selbst stattfinden, wie in einer Klosterzelle. Die geteilten Räume böten den Studierenden hingegen ein Forum für Gemeinschaft und lüden zur Begegnung ein. Zudem sind die einzelnen Buden in unterschiedlichen Farben gestrichen. Barz erklärt begeistert: „Alle haben das Gleiche, alle den gleichen Schreibtisch, die gleichen Quadratmeter, den gleichen Boden und dennoch sind die Räume durch Farbe und Anordnung der Möbel, Fenster und Türen verschieden.“
Von den Architekten war die kleine Raumgröße beabsichtigt, spricht man aber mit aktuellen Bewohner*innen, dann ist dies einer ihrer ersten Kritikpunkte. „Für die Lage und nur 12 Quadratmeter Zimmergröße sind 450 Euro echt nicht günstig“, erklärt eine von ihnen. Zur Freien Universität ist man mindestens 30 Minuten unterwegs. Die Verwaltung dagegen sei gut und fast alle Menschen nett, berichten Bewohner*innen weiter. Die besondere Architektur kommt den meisten eher nicht ins Gedächtnis. Viele wissen nichts oder kaum etwas davon. Auch dass hinter der Farbgebung der Innenräume ein Konzept steht, ist eher unbekannt.
In Haus 26 strahlt das Treppenhaus in Orange, der Flur von Lorenzo Brigadois Wohnung ist in penetrantem Gelb gestrichen, sein Bad hingegen grün. „Die Leute waren während des Online-Semesters immer irritiert, wo ich bin“, lacht Lorenzo. Der Politikwissenschaftsstudent erklärt auch: „Ich wohne da seit einem Jahr und weiß nichts.“ Er sei prinzipiell nicht uninteressiert an der Geschichte des Dorfes, aber vor Ort erfahre man davon so gut wie nichts. Nur die Auszeichnung als Kulturdenkmal und ein Schriftzug, der auf die Spenden der amerikanischen Regierung und Mittel des Landes Berlin verweist, seien sichtbar.
Dabei endet die Geschichte des Dorfes nicht mit dessen Gründung. Im Zuge der 68er-Bewegung spricht Rudi Dutschke im Gemeinschaftshaus des Dorfes und es kommt zu studentischem Widerstand. „Die Studentendorfgeschichte ist auch eine Geschichte der Infragestellungen der Prinzipien des Dorfes und seiner Fortexistenz“, erklärt Barz. Es habe sich bereits kurz nach der Gründung gezeigt, dass nicht alle Bewohner*innen Lust auf demokratische Mitgestaltung hatten. Phasen von großem Engagement und von wenig Beteiligung wechselten sich also immer wieder ab.
Die Studentendorfgeschichte ist auch eine Geschichte der Infragestellungen der Prinzipien des Dorfes und seiner Fortexistenz.
Andreas Barz
Der vermutlich prägendste Protest führte dazu, dass das Studentendorf Schlachtensee heute eine Genossenschaft ist, zum Teil geleitet von ehemaligen Bewohner*innen. Bereits seit den 80er-Jahren gab es Pläne, das verfallende Studentendorf abzureißen. Zunächst konnte dies durch Proteste aufgehalten werden. Nach der Wende kam die Idee aber wieder auf. Die wenigen Studierenden, die in dem Dorf wohnten, wehrten sich und versuchten, Alternativen zum Abriss zu finden. Der Plan, das Studentendorf zu kaufen und zu erneuern, drohte mehrmals zu scheitern.
Seit 2006 gibt es deshalb die Idealgenossenschaft Studentendorf Schlachtensee. Geld für den Ankauf konnte letztlich vor allem durch den Verkauf des Bodens an eine Schweizer Pensionsstiftung gesammelt werden, welche ihn an die Genossenschaft verpachtet. Seitdem erneuert die Genossenschaft das Dorf nach und nach.
Bewohner*innen berichten, dass „die besondere Gemeinschaft“ eher Glückssache sei. „Manchmal gibt es eben drei bis vier Leute in einer Wohngemeinschaft, die länger bleiben und die sich verstehen, aber oft sind das auch Erasmus-Studierende, die nach einem halben Jahr wieder weg sind oder die Leute haben keine Lust auf Gemeinschaft“, berichtet eine Bewohnerin. Lorenzo meint sogar: „Freundschaften schließt man außerhalb des Studentendorfes. Man wohnt da, weil man da wohnen muss.“ Ob ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Wohnung entstehen könne, hinge auch ein bisschen von den Wohnhäusern ab. Manche seien architektonisch offener als andere.
Barz erklärt, das Studentendorf verstehe sich eher als Ankunftsort und „Welcome Center“ in Berlin. Die Genossenschaft bemühe sich immer wieder, die Gemeinschaft zu unterstützen. Bettina Widner, Presse- und Kommunikationskoordinatorin der Genossenschaft, berichtet von Veranstaltungen wie dem wöchentlichen Gesprächsformat Chai & Chat, Ausflügen und Projekten wie Sprachtandems oder Urban Gardening. Die Teilnehmer*innenzahlen sind vergleichsweise niedrig. „Wenn man darüber nachdenkt, ist es auch ein bisschen traurig, dass sie es versuchen und viele dieses Angebot nicht wahrnehmen, aber so ist es“, kommentiert Lorenzo. Er selbst war noch bei keiner der Veranstaltungen.
Widner erklärt dazu: „Die Studierenden müssen das schon selber machen. Wir können nur den Raum und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen.“ Es sei ihnen wichtig, den Grundgedanken des Dorfes, die Selbstbestimmung, zu erhalten. Man versuche außerdem, den Bewohnenden die Geschichte und das Konzept des Dorfes näher zu bringen. Aktuell läge der Fokus noch auf der Erneuerung des Dorfes, man plane aber bereits ein Audioformat und hoffe, das Gemeinschaftshaus nach der Pandemie kulturell bespielen zu können.
Lorenzo hat seinen Vertrag für das Studentendorf vor Kurzem verlängert. Er wird erst einmal bleiben. Alternativen sind in Berlin rar und die Lage ist für ihn nur ein kleines Problem – er hat ein Auto. Außerdem erklärt er: „Ich mag das Studentendorf. Ja, es ist auch für mich zu meinem Zuhause geworden.“ Andere sind froh, das Studentendorf Richtung Innenstadt verlassen zu können.
Letztlich räumt Andreas Barz ein, dass das Studentendorf auch ein „theoretisches Idealgebilde “ sei und man wohl nie jede*n erreichen könne, man könne es aber zumindest danach streben: „Die Architektur muss die Räume für die Begegnung ermöglichen.“
Fotos: Tim Gassauer