„Am Anfang war es ein bisschen wie ein Zeltlager“

Schreibtisch, Bett und Kleiderstange auf 15 Quadratmetern – für ein WG-Zimmer voll normal! Aber geht das nicht anders? FU-Studentin Sarah hat während ihres ersten Studiums in Lüneburg in einer funktionalen WG gelebt und unserer Autorin Julia Wyrott erzählt, wie das für sie war.

Funktionales Wohnen heißt teilen. Illustration: Klara Siedenburg

Aus der Wohnung dröhnt leises Gelächter. Der Esstisch im Wohnzimmer ist für vier Personen eingedeckt. Ein großes Sofa und ein Sessel verströmen Gemütlichkeit. Die leicht geöffnete Schiebetür gibt den Blick auf ein angrenzendes Arbeitszimmer frei, das mit Schreibtischen, Regalen und einer Matratze auf Paletten ausgestattet ist. Als die Küchentür aufschwingt, werden die Stimmen lauter. Essen wird zu Tisch getragen. Was wie ein typischer Abend in einer Familie klingt, ist Sarahs Schilderung einer ganz besonderen WG, in der sie für kurze Zeit gelebt hat.

Sarah studiert Kulturwissenschaften in Lüneburg, als sie mit vier guten Freund*innen funktionales Wohnen ausprobiert. Dabei handelt es sich um eine Wohnform, bei der die Räume nicht nach Personen, sondern nach Zweck eingeteilt werden. „Das ist aus dem Grund entstanden, dass wir gern zu viert wohnen wollten, aber nur Platz für drei Personen hatten“, sagt Sarah. Also wird die bereits existierende Dreier-WG um eine vierte Person erweitert. In der Wohnung wird ausgemistet, umgestellt, Räume werden neu eingeteilt. Im Gegensatz zu einer normalen WG, in der jede*r sein*ihr eigenes Zimmer hat, werden zwei Räume zu geteilten Schlafzimmern. Dadurch entsteht Platz für ein gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer.

Geteilt werden nicht nur die Räume, auch von Lebensmitteln und Kleidung machen die vier gemeinsam Gebrauch. Zwar hat jede*r eine eigene Kleiderstange, aber „wenn man sich ein Zimmer teilt, kann man nicht sagen: Auf der einen Seite sind meine Sachen und auf der anderen deine. Das vermischt sich dann irgendwie“, meint Sarah. An die ersten Tage in der funktionalen WG erinnert sie sich gern: „Es war sehr aufregend und schön. Ein bisschen wie ein Zeltlager.“

Da die WG schon vor der Transformation in die funktionale Wohnform sehr familiär war, habe sich im Zusammenleben nicht viel verändert. Durch die Aufteilung in Zweiergruppen nach Schlafzimmern sei allerdings die Dynamik anders geworden, so Sarah. Mit Zimmernachbarin Astrid hat sie dadurch besonders viel Zeit verbracht und eine intensive Beziehung aufgebaut. „Wir haben abends Hörbücher gehört und uns die Highlights unseres Tages erzählt. Zusammen das Licht auszumachen und gemeinsam den Tag zu beenden, das war schon etwas ganz Besonderes.“

Ähnlich wie in einer Familie ist aber nicht alles immer im Lot. Wenn ein*e Mitbewohner*in spät nach Hause kommt und nicht besonders leise ist, ist Sarah genervt. „In diesen Situationen mussten wir alle erst mal lernen, Probleme und Bedürfnisse anzusprechen und die der anderen zu akzeptieren.“ Viel Absprache ist ebenfalls nötig, wenn ein*e Mitbewohner*in in einer Beziehung ist und ständig entschieden werden muss, wer wo schläft. Trotzdem gewöhnen sich die vier an das funktionale Wohnen, es wird zur Normalität.

Erst als die Corona-Pandemie Einzug in Deutschland hält, wird die WG aus ihrer gewohnten Bahn geworfen. „Dadurch, dass wir alle vier gleichzeitig zu Hause waren, wurde eine ganz andere Kommunikation nötig.“ Das Leben mit Zoom-Meetings und Ausgangssperre überforderte nicht nur die räumlichen Kapazitäten, sondern auch die Emotionen. „Sobald es einer Person nicht so gut ging, hat das uns alle beeinflusst.“ Es ist Astrid, die den ersten Schritt macht: Sie sucht sich eine neue WG und zieht aus. Sarah hat dadurch das Schlafzimmer für sich. „Ich habe dann gemerkt, dass ich auf Dauer einen eigenen Raum und Rückzugsort brauche.“

Nach einem halben Jahr brechen die vier das Experiment ‚funktionales Wohnen’ ab. Astrid zieht aus und die drei Mitbewohner*innen haben ihre eigenen Zimmer zurück. „Ich würde nicht sagen, dass das Projekt gescheitert ist. Es war von vornherein klar, dass es nicht für die Ewigkeit gemacht ist.“ Ist die funktionale WG nun die bessere Variante des studentischen Zusammenlebens? Sarah meint: „Das ist sehr individuell. Für mich ist funktionales Wohnen nicht so geeignet, weil ich eine gewisse Privatsphäre brauche, um zur Ruhe zu kommen und meine Gedanken zu ordnen.“ Für Sarah bleibt es wohl doch bei Schreibtisch, Bett und Kleiderstange.

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