Untergang, Versprechungen und Utopien

Auf See von Theresia Enzensberger zeigt, wie gesellschaftskritisch ein dystopischer Coming-of-Age-Roman sein kann. Es geht um nicht weniger als die Frage nach Freiheit, Verantwortung und dem Miteinander im Angesicht einer ungewissen Zukunft. Eine Rezension von Emma Mehl.

Volle Kraft voraus: Theresia Enzensbergers Roman nimmt Kurs auf den vielleicht dystopischsten Roman des Jahres. Foto: Emma Mehl

Was passiert?

Yada lebt auf der Seestatt, einer auf der Ostsee schwimmenden künstlichen Insel, die von ihrem Vater als Flucht vor der im Chaos versunkenen Welt mitgegründet wurde. Das Festland sei unsicher, neben Hunger und Armut erwartet einen dort nichts, so hat Yada es beigebracht bekommen.

Abgeschottet von der Außenwelt wird sie zwar in Fächern wie Mathematik und Informatik von bekannten Wissenschaftler:innen unterrichtet, aber auf die ihr wichtigen Fragen, z.B. nach den mysteriösen Umständen des Todes ihrer Mutter, bekommt sie keine Antwort. So begibt sie sich auf eine Suche, die ihr Weltbild in Frage stellt.

Helena Harold lebt in Berlin. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so groß wie noch nie, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit beherrschen das Stadtbild. Helena verdient als exzentrische Künstlerin zwar viel Geld, zieht es aber vor, keine feste Wohnung zu haben und sich ohne Handy und Laptop jeglicher Verantwortung zu entziehen.

Davon trägt sie nämlich schon genug: Aus einer Laune heraus gründete  sie eine Sekte, deren Anhängerinnen sie gegen ihren Willen als Orakel feiern und nach der von ihr erfundenen Ideologie leben. Als jedoch ein anderer versucht die Gruppe zu übernehmen und Helena von Sophie, einem der Mitglieder, um Hilfe gebeten wird, muss sie sich nicht nur den Folgen ihrer Verantwortungslosigkeit, sondern auch ihrer Vergangenheit stellen.

Worum geht es?

In dem Roman geht es um nicht weniger als die Frage nach Freiheit, Verantwortung und dem Miteinander im Angesicht einer ungewissen Zukunft. Es geht auch um Klassen und Privilegien, als zum Beispiel Yada mit den Umständen auf dem Mitarbeiterschiff, das das Personal der Seestatt beherbergt, konfrontiert wird. Die Geschichte ist komplex, viele Zusammenhänge erklären sich erst im Nachhinein, wobei Enzensbergers nüchterner Schreibstil sich trotzdem einfach lesen lässt.

Die Verwendung des generischen Femininums fügt sich genauso nahtlos in die Erzählung ein wie das Archiv: Zwischen die Kapitel aus Sicht von Yada und Helena sind Geschichten von gescheiterten Utopien, Kolonialisierung und Staatsgründungen geschoben. Es ordnet die Idee des autarken Inselstaates historisch eben nicht als Innovation ein, sondern stellt die Idee von Yadas Vater an das Ende einer langen Liste von Betrügereien und Ausbeutung.

Wer sollte auf See lesen?

Auf See ist eine Mischung aus Dystopie und Coming-of-Age-Roman, der aber auf jegliche Art von überromantisiertem Teenager-Drama verzichtet.

Der Roman ist keine leichte Strandlektüre, zieht aber mit seiner Untergangsstimmung beim Lesen ungemein in den Bann. Wer keine Lust auf actiongeladene Science-Fiction hat, sondern eher nach Gesellschaftskritik in einem präapokalyptischen Setting sucht, wird hier fündig. Enzensberger Zukunftsentwurf ist vielleicht genau deswegen so spannend, weil die Welt der Protagonistinnen nicht weit entfernt von unserer jetzigen Lebensrealität zwischen Kriegen, Pandemie und Klimakrise entfernt ist. Darum wundert es auch nicht, dass Auf See von der Jury des Deutschen Buchpreis zu einem der zwanzig besten Bücher des Jahres gewählt wurde.

Auf See wird als Hardcover herausgegeben von Hanser, und kostet 24€. Der Roman ist garantiert jedoch nicht weniger aktuell, wenn er als (deutlich günstigere) Taschenbuchausgabe erscheint.

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