Hürdenlauf zum Studienabschluss

Rund jede*r zweite Studierende ist Erstakademiker*in. Das spiegelt nicht Chancengleichheit, sondern ein klares Ungleichgewicht wider – Kinder aus akademischem Elternhaus studieren dreimal häufiger. Welche Hürden im Studium warten und was sich ändern muss, erzählen drei Betroffene. Von Anna-Lena Schmierer, Dune Korth und Laura von Welczeck.

Der Hochschulbildungsreport macht die Chancenungleichheit sichtbar. Quelle: Hochschulbildungsreport 2020, Grafik: Friedrich Klingenhage

Unbezahlbare Wohnungen, Konkurrenzdruck bei der Bewerbung fürs Wunschpraktikum und die ständige Frage nach der Regelstudienzeit. Viele Studierende kennen diese Probleme. Gerade für Erstakademiker*innen sind Herausforderungen aber häufig auch an die soziale Herkunft gekoppelt. Das legt der Hochschulbildungsreport 2020 nahe: Nur 27 von 100 Grundschüler*innen mit Eltern ohne Hochschulabschluss beginnen später ein Studium. Bei ihren privilegierten Klassenkamerad*innen sind es dagegen 79. Die Gründe dafür sind vielfältig und beispielsweise an den Zugang zu Netzwerken und finanziellen Ressourcen geknüpft. 

Auf sich alleine gestellt

„Meine Erfahrung als Erstakademikerin reicht länger zurück als mein Bewusstsein dafür“, erzählt Andrea Binder, Dozentin für Politikwissenschaft an der FU. Nach ihrem Bruder war sie die erste in ihrer Familie, die studierte. Sie erzählt, was es bedeuten kann, wenn die eigenen Eltern bei vielen Dingen nicht helfen können: Eigentlich wollte sie gerne Materialwissenschaften studieren. Bei der Studienberatung sei ihr davon abgeraten worden, Sozialwissenschaften würden für sie „als Frau“ besser passen.

„Meine Eltern kannten sich nicht genug aus, um zu sagen: ‚Nein, studier’ mal, was du willst‘.“

Andrea Binder

Wäre es nach Anna’s* Familie gegangen, hätte sie eine Ausbildung gemacht – „als Finanzgrundlage.“ Anna wollte jedoch Ärztin werden. Bei der Bundeswehr verpflichtete sie sich für 17 Jahre. Das ermöglichte ihr ein NC-freies Medizinstudium und ein gesichertes monatliches Gehalt. Dass ihre Familie manchmal keine Vorstellung von ihrem Studium hatte, wurde Anna nach dem ersten Semester deutlich. Während ihre Kommiliton*innen von ihren Eltern mit dem typischen Skelett fürs Wohnzimmer beschenkt wurden, wusste Annas Mutter nichts von diesem Brauch. „Rückblickend ist das Quatsch, aber in dem Moment hätte ich mir das gewünscht, das gehörte irgendwie dazu.“

Für Jasmin* waren Abitur und Studium fern von jeglicher Vorstellung, schon rein finanziell: „Ich wurde einfach nicht so sozialisiert.“ Mittlerweile studiert sie auf dem zweiten Bildungsweg Sozial- und Kulturanthropologie an der FU. Damit gehen neue Hürden einher: „Zum Beispiel werden studienbegleitende Praktika vorausgesetzt. Für mich ist das schwierig: Die sind meist unbezahlt.“

Vorgelagerte Hürden

Auch als Dozentin merkt Andrea Binder, wie strukturelle Diskriminierung ihre Studierenden beeinflusst. Besonders gravierend sei es, wenn es um wichtige Karriereschritte, wie beispielsweise eine Stelle als studentische Hilfskraft gehe. An der FU werden dafür „aussagekräftige Bewerbungsunterlagen“ gefordert. „Woher sollen Erstakademiker*innen und ausländische Studierende wissen, was der Standard ist?“, fragt sie. Diese vorgelagerte Hürde verwehre vielen Menschen den Zugang.

„Woher sollen Erstakademiker*innen und ausländische Studierende wissen, was der Standard ist?“

Andrea Binder

Anna hätte sich gewünscht, schon früher ein realistisches Bild einer akademischen Karriere zu bekommen. Ohne Vorbilder in der Familie blieb ihr nur der Besuch ihrer Schulklasse in den Berliner Unis – und hier wurden die für sie relevanten Fragen nicht beantwortet. Umso wichtiger sei laut Andrea Binder ein Netzwerk, das den Austausch mit neuen Kontakten und Vorbildern ermöglicht. Doch je weiter man die Karriereleiter erklimmt, desto weniger Erstakademiker*innen als potenzielle Mentor*innen gibt es, vor allem FLINTA*. Von den 27 Studienanfänger*innen ohne akademisches Elternhaus machen laut Hochschulbildungsreport nur 11 ihren Masterabschluss und nur 2 promovieren. 

Vernetzt euch!

Jasmins Netzwerk besteht vor allem aus Schulfreund*innen. Deshalb habe sie sich im Studienalltag selten klassistisch diskriminiert gefühlt. Trotzdem hilft ihr die Auseinandersetzung mit ihrer Position als Erstakademikerin:

„Es sind ungerechte Strukturen und nicht meine Schuld.“

Jasmin*

Andrea Binder rät, den Fokus trotzdem nicht nur auf die Schwierigkeiten zu legen, sondern Verbündete zu suchen: In ihrer Twitter-Bio steht #firstgen, „damit Menschen auf mich zukommen können.“


*Name wurde von der Redaktion geändert.

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