Scherbenhaufen

Einmal richtig eskalieren, schreien und zerstören – helfen sogenannte Crash Rooms wirklich bei der Bewältigung von unterdrückten Emotionen? Ein Erfahrungsbericht von Lucie Schrage.

Illustration von Paul-Nando Müller.

Meine vorlesungsfreie Zeit ist gefüllt mit Hausarbeiten, Vorbereitungen für die Bachelorarbeit, Ferienkursen, Hochschulsport und meinem Job, den ich wechsle. Auch an den Wochenenden bin ich immer voller Energie und von vielen Reizen umgeben: Clubs, Konzerte, Geburtstage und Ausstellungen. Ich will alles schaffen, bei allem dabei sein, mir keine Pausen nehmen – Urlaub ist nicht eingeplant.

Die Folge: Ein Totalausfall überrollte mich. Er kam und er blieb. Er machte mir Angst.
Alles ist zu viel: U-Bahn fahren, Einkaufen, Musik hören. Alles ist eine potenzielle neue Stressquelle und von Stress hatte ich die letzten Monate zu viel. Also stelle ich mein Handy in den Flugmodus und starre in die Ferne. Mehr ist nicht möglich. Mein Körper zwingt mich zum Stillstand.

Ein Tag voller Tränen, reichhaltiger Sorgen und schließlich nur noch Watte in meinem Kopf. Da ist nur noch Stille. Im Autopilot mache ich weiter, jede Energie, die ich wieder gewinne, verbrauche ich sofort. Während alle meine technischen Geräte im Energiesparmodus sind, bin ich es nie.

Völlig ausgebrannt schlittere ich ins neue Semester. So kann es natürlich nicht weitergehen – das merke ich auch. Ich will keine Unmengen an Kaffee oder Mate trinken, Süßigkeiten essen oder Ibuprofen einwerfen, nur um zu funktionieren. Mein Kopf und mein Körper sehnen sich nach einer Pause. Meine üblichen Wege wie Meditation,Yoga, Spaziergänge und Journaling helfen mir nur bedingt. Deshalb versuche ich nun einen anderen Weg, um mit dem Stress, dem Leistungsdruck, der verinnerlichten Hustle Culture und der ganzen Überforderung in mir umzugehen. Dafür nehme ich die U8 zur Endstation Wittenau und fahre dann mit dem Bus noch weiter raus. Unterwegs bekomme ich eine SMS von meiner Therapeutin, dass sie unseren Termin am nächsten Morgen absagen muss. Den angestauten Stress in mir kann ich trotzdem loswerden, denn ich habe mir einen Wutschein für einen Crash Room besorgt.

An einem halbwegs schönen Frühlingstag betrete ich das Gelände in dem verlassenen Industriegebiet. Schon auf dem Weg zum Büro höre ich, wie jemand Möbel zertrümmert. Eine Frau in einem roten Schutzanzug, mit einem Hammer über der Schulter, kommt mir entgegen, lächelt mich freundlich an und verschwindet in ihrem Crash Room. Wenige Minuten später trage auch ich so einen roten Anzug sowie einen Helm mit Visier und Ohrenschützern. So betrete ich die alte Scheune, bereit für meinen Glass Smash.

»Du kannst ruhig die Musik laut aufdrehen oder schreien. Wir sind im Gewerbegebiet, hier hört dich niemand«, meint ein Mitarbeiter zu mir und lässt mich dann allein in der Scheune zurück. In der Holzkiste, die er mitgebracht hat, sind 20 Glas- und Porzellanteile, die ich zerstören darf. Zögernd betrachte ich die Teile und den großen Vorschlaghammer. Nachdenklich nehme ich die Kunstblumen aus der Vase und betrachte das eingerahmte Familienfoto. Ich bin mir unsicher, ob ich es wirklich zerstören will. Vielleicht gehört das Bild hier jemandem, aber dann schüttle ich den Kopf. Ich werde nicht zurückgehen und fragen, will jetzt nicht wieder alles zerdenken. Schließlich bin ich auch hier, um den Kopf frei zu bekommen und einmal das zu tun, was ich nicht darf: Ausrasten.

Zuerst fliegt das Familienbild gegen die Wand. Dann die Weingläser, die Porzellantassen und -teller. Große Scherben fallen klirrend zu Boden. Ich helfe nach und schlage mit dem Vorschlaghammer darauf. Ich werde immer schneller, schleudere die Teile mit immer mehr Wucht gegen die bereits demolierte Wand. Nur um beim nächsten Mal noch mehr auszuholen, noch härter zuzuschlagen, wieder und  wieder, wie im Rausch. Der Song good 4 you von Olivia Rodrigo treibt mich an.

Da war zu lange viel zu viel in meinem Kopf. Themen, die immer wieder hochkommen. Angefangen beim Unistress, über den Druck, den ich mir selbst mache, hin zu Liebesangelegenheiten, Zukunftsängsten und all den Momenten, in denen ich gerne mutiger gewesen wäre. Da ist so viel Wut, die sich aufgestaut hat. Wut auf mich selbst, auf andere, auf unsere Gesellschaft. Wut, die ich nie rauslasse. Ich raste nie aus, weil mir gesagt wurde, dass es mir nicht steht. Den meisten reicht ein Blick, um dann abzuspeichern: Sie ist klein, wirkt nicht besonders stark, die würde keiner Fliege etwas zu Leide tun. Der Hammer und ich wissen es besser.

Zugegeben, ich fühle mich plötzlich selbst wie die verrückte Ex-Freundin im good 4 you  Musikvideo, die sich in einem überfluteten Zimmer ihrem Liebeskummer hingibt, während die Gardinen brennen. Den Gedanken schiebe ich schnell beiseite, weil es jetzt egal ist. Mein Kopf ist frei und ich bin glücklich. Ich habe vergessen, was Stille ist und wie gut sie sich anfühlen kann. Ich singe laut mit und lache, freue mich über das Chaos, das ich anrichte. Ich habe Spaß, fühle mich gut. Sehr gut sogar. Stolz blicke ich auf das Endergebnis: den Scherbenhaufen als Symbol meiner Zerstörungskraft.
Dazu eine Erkenntnis, die mir wahrscheinlich auch meine positiven Affirmationen mitgeben würden: Du darfst auch mal überfordert sein. Du darfst Pausen machen. Du darfst dir mehr Zeit nehmen. Du darfst alle Emotionen zulassen. Du darfst wütend sein. Du darfst auch mal ausrasten. Und ich will auch ausrasten. Nur habe ich nie gelernt, Wut zuzulassen. Der Glass Smash war ein Anfang. Ich werde wieder kommen, denn so ein roter Anzug steht mir eigentlich ganz gut.

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