EIN FREISPRUCH DER WUT

Wut, Aggression, Gewalt. Drei Phänomene, die häufig miteinander assoziiert werden. Wut ohne Gewalt oder aber Aggression ohne Wut – kann es das überhaupt geben? Ein Ex-Jugendstraftäter teilt seine Erfahrungen mit Line Grathwol.

Im Wuttagebuch soll ein Umgang mit der Wut erlernt werden. Illustration: Lena Stein

„Ich bin kein wütender, aggressiver Mensch”, sagt Tim*. Heute ist er 18 Jahre alt, mit 16 saß er in einer Jugendstrafanstalt. Wegen Gewalttätigkeit. Tim ist vollkommen entspannt und spricht offen und locker über das Thema, während er nebenbei einen Teller Nudeln isst. Wut und Gewalt werden in den Augen der Gesellschaft als eng verwoben wahrgenommen. Für Tim allerdings haben Gewalt und Wut wenig miteinander zu tun. Er denkt laut nach und führt eine persönliche Erfahrung von ihm als Beispiel an. Er habe oft mitbekommen, „dass auch Leute, die schnell ausrasten, nicht gewalttätig werden und dass es umgekehrt Leute gibt, die eigentlich nicht so schnell ausrasten, aber trotzdem gewalttätig werden”.

Wut führe also nicht zwangsläufig zu Gewalt. Im Alltagsverständnis der Gesellschaft sieht das anders aus. In dem Bilderbuch Schreimutter von Jutta Bauer reißt die Wut der Mutter den kleinen Pinguin so sehr auseinander, dass seine Körperteile auf der ganzen Welt verstreut landen. Führt Wut nun zu Gewalt oder nicht? Im Jahr 2022 sind die gefährlichen und schweren Körperverletzungen in Deutschland mit über 22.000 Fällen mehr um ca. 18% gestiegen. Damit erreichen sie den höchsten Wert seit 2010. Wenn ein Zusammenhang zwischen Wut und Gewalt besteht – trägt die Wut dann ihren Teil zu diesen Statistiken bei? Oder beweist sich Tims Eindruck als richtig und Wut und Gewalt stehen nicht im direkten Zusammenhang?

Valentin Bachmann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité. Er spricht nicht von Wut, sondern von Impulsivität, wenn er erläutert, wie Gewalt entstehen kann. Diese umfasse eine besondere Neigung zu aggressivem Verhalten. „Die Impulsivität allein”, so Bachmann, „bietet aber noch keinen hinreichenden Erklärungsansatz für komplexes Verhalten wie Gewalttätigkeit”. Das würde die Gewalt vereinfachen und rechtfertigen. Gewalt entsteht laut Bachmann immer durch mehrere Ursachen. Impulsivität kann ein Faktor davon sein. Bei Tim war es nicht die Wut, die ihn gewalttätig werden ließ. Er wollte sich beweisen. 

Wie aber hängen Wut und Impulsivität zusammen? Bachmann definiert Impulsivität als Neigung zu unüberlegten, plötzlichen Handlungen. Der Duden hingegen definiert Wut als ‚heftigen, unbeherrschten, durch Ärger o. Ä. hervorgerufenen Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt‘. Wutausbrüche seien somit impulsive Handlungen. Wenn Bachmann also von Impulsivität spricht, kann diese durch das Gefühl der Wut ausgelöst worden sein – Wut und Impulsivität stehen in einem direkten Zusammenhang.

Diese Definitionen implizieren, dass Wut in Gewalt umschlagen kann. Die Worte und Taten, in denen sich der Gefühlsausbruch äußert, machen Gewalt möglich. Allerdings beschreibt diese Definition von Wut auch Wut, die nicht in Gewalt endet. Beispielsweise die eines Kleinkindes, das keine Süßigkeiten bekommt und seine Wut durch Stampfen zeigt. Für Tim ist eine Person dann wütend, „wenn man einen Tunnelblick bekommt, vergisst, wer Freund oder Feind ist und so richtig ausrastet”. Wenn er zum Beispiel ein Glas runter schmeiße, sei er sauer oder genervt, aber nicht wütend. Tim definiert Wut in einem engen Zusammenhang mit Gewalt. Sein gewaltnahes Verständnis von Wut steht im Widerspruch zu seiner vorherigen Einschätzung.

Bei der Entstehung von Gewalt gäbe es zwei Ursachengruppen, so Bachmann. Reaktive Aggressivität sei durch den Wunsch motiviert, jemanden aus Frust, subjektiv erlebter Bedrohung oder Provokation zu verletzen. Instrumentelle Aggressivität sei hingegen motiviert durch ein Sekundärziel, wie beispielsweise Geld. Tims Motivation ‚sich zu beweisen‘ und damit sein Selbstbild zu erhalten, ist demnach eher der instrumentellen Aggressivität zuzuordnen. Allgemein sei Gewalt, laut Bachmann, immer durch „biologische, psychologische, soziale und situative Faktoren bestimmt”. 

Er führt aus, dass der präfrontale Kortex, an den angemessenes Sozialverhalten und Impulskontrolle gebunden seien, eine sehr heterogene Hirnregion darstelle. Das erschwere klare Aussagen. Diskutiert würden zum Beispiel neurobiologische Auffälligkeiten wie strukturelle Hirnveränderungen, funktionelle Störungen neuronaler Netzwerke und genetische Variationen. Bachmann betont: „Auch durch den Konsum von Alkohol oder Drogen kann es zu einer Herabsetzung von Hemmmechanismen kommen, die die Entstehung von Gewalt begünstigen”.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Gewalt vorzubeugen. Tim erzählt, dass er an einem emotionalen Kompetenztraining teilgenommen habe. Dort sei Wut auch ein großes Thema gewesen. Sie hätten dort ein Wut-Tagebuch geführt und über einen guten Umgang mit der Emotion gesprochen. Bachmann nennt Anti-Aggressivitäts-Trainings als Möglichkeit. Dieses verhaltenstherapeutische Verfahren würde unter anderem die Opferempathie stärken und einen besseren Umgang mit aggressiven Handlungsimpulsen einüben. Das Ziel sei es auch, alternative Handlungsoptionen zu erkennen und einzuüben. Tim betont, dass der Erfolg solcher Therapien stark von der Einstellung der Teilnehmenden abhängen würde. Das sei nicht für alle das Richtige, erklärt er. Aber: „Man kann nicht für jeden individuell etwas finden.” Neben diesen Möglichkeiten käme auch eine medikamentöse und/oder psychotherapeutische Behandlung einer zugrunde liegenden psychischen Störung in Frage.

Wut oder Impulsivität können also aus wissenschaftlicher Perspektive im Zusammenhang mit anderen Faktoren zu Gewalt führen – ein zwingender Zusammenhang besteht aber nicht. Auch neurobiologisch ist eine direkte Verknüpfung von Wut und Gewalt nicht gegeben. Nach Tims Erfahrung muss Gewalt nicht immer aus Wut entstehen, auch wenn seine persönliche Definition davon ausgeht. Die Zunahme der Gewalt im letzten Jahr kann also nicht durch eine steigende Wut in der Gesellschaft erklärt werden. Das wäre zu einfach und würde die Gewalt auch legitimieren.

*Name von der Redaktion geändert

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