Wie Wut in unserem Körper entsteht und warum manche schneller wütend werden als andere, erklärt Entwicklungspsychologe Prof. Herbert Scheithauer im Interview mit Larissa Schäfer.
Prof. Herbert Scheithauer ist am Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft sowie Angewandte Entwicklungspsychologie der Freien Universität tätig und entwickelte das Präventivprogramm Papilio zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenz im Kindergarten. Foto: banane design gmbh bremen
FURIOS: Prof. Scheithauer, was ist Wut?
Herbert Scheithauer: In der Emotionsforschung würden wir erstmal von Ärger sprechen. Im alltäglichen Sprachgebrauch sind Ärger, Zorn und Wut mehr oder weniger dasselbe. Wut ist die Steigerung von Ärger – beide beziehen sich meist auf konkrete Situationen. Dagegen meint Zorn eher etwas Allgemeineres.
FURIOS: Was passiert im Gehirn, wenn wir wütend werden?
Herbert Scheithauer: Aus biologischer Sicht steuert das vegetative Nervensystem die Vorgänge im Körper, ohne dass sie willentlich kontrolliert werden könnten. Die Emotion Ärger geht einher mit der Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin, Testosteron oder Cortisol. Ob dabei zuerst die physiologischen Reaktionen eintreten oder der Verstand die Situation bewertet, ist in der Psychologie noch immer umstritten. Inzwischen wissen wir natürlich, dass es sich um hochkomplexe Situationen handelt. Biologie ist immer das Resultat eines komplexen Wechselspiels unserer bisherigen Entwicklung. Oft werden Emotionen so stark erlebt, dass die Amygdala, eine Hirnregion, die bei der emotionalen Bewertung und Analyse von Gefahren eine wichtige Rolle spielt, eine direkte Reaktion auslöst. Das bedeutet: Manchmal gibt es Situationen, in denen wir so schnell und heftig reagieren, dass der Cortex, das Vernunftzentrum des Gehirns, gar nicht erst aktiv wird. In der Wissenschaft wird dann von Amygdala Highjacking gesprochen. Hier wird eine Flut von Hormonen freigesetzt, die einen Alarm auslösen – es folgt ein sofortiger Energieschub.
FURIOS: Und warum neigen manche Menschen eher zu Wut als andere?
Herbert Scheithauer: Die Persönlichkeitspsychologie, etwa die Temperamentsforschung, zeigt, dass individuelle Persönlichkeitsmerkmale zu unterschiedlichen Reaktionen auf Verärgerung führen. Emotionsregulation hängt von Eigenschaften wie der emotionalen Impulskontrolle und dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden ab. Sie ist aber auch erlernbar. Kinder und Jugendliche lernen das in der Regel im Rahmen ihrer Sozialisation oder durch Präventionsprogramme wie Papilio.
FURIOS: Hat Ärger auch positive Eigenschaften?
Herbert Scheithauer: Ärger erfüllt eine genauso positive Funktion wie Ängstlichkeit oder Traurigkeit. Wir sind soziale Wesen und in Großstädten wie Berlin rund um die Uhr sozialen Interaktionen ausgesetzt. Da hat der Ärgerausdruck einer Person eine ganz wichtige Signalfunktion und lädt ein Gegenüber dazu ein, zu überlegen: ›Was ist schiefgelaufen?‹ Im Rahmen einer angemessenen Selbstbehauptung hat Ärger individuell auch die Funktion, als Person nicht benachteiligt zu werden. Wenn ich als Frau merke, dass mein männlicher Kollege im Job mehr verdient, ärgere ich mich zu Recht und habe vielleicht die Energie zu sagen: ›Das geht so nicht, jetzt muss hier mal was geschehen‹. Deshalb ist Ärger eine Emotion, die genauso wichtig ist wie alle anderen Emotionen.
FURIOS: Geht unsere Gesellschaft gut mit Wut um?
Herbert Scheithauer: Ich weiß nicht, ob wir in Deutschland besonders gut mit Wut umgehen. Gesellschaftlich und kulturell haben bestimmte Emotionen in ihrem Ausdruck eine ganz unterschiedliche Wertigkeit. Ob es angemessen ist, aus Verärgerung wütend zu reagieren oder nicht, wird durch verschiedene soziale Normen bestimmt. Zusätzlich gibt es gender stereotypes. Wenn eine Frau aggressiv reagiert, wird gesagt: ›Das geht ja gar nicht‹. Doch ein Mann darf das. Wir wissen aber, dass ein falscher Umgang mit der Emotion Ärger krank machen kann. Wenn ich Ärger immer unterdrücke, in mich hineinfresse, kann es zu einer vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen kommen. Das kann auf Dauer zu Erkrankungen führen. Klar muss auch reflektiert werden: Was sind sozial dienliche Reaktionen im Sinne der Emotionsregulation? Und es sollte nicht nur Männern zugestanden werden, ärgerlich zu reagieren, sondern Frauen genauso – allen Personen, egal welcher Geschlechtszugehörigkeit. Das bedeutet nicht, dass ich Ärger als Aggression auslassen muss, sondern als Emotion annehme.