Lieber Liebe selbstgemacht

Ist es möglich, sich in einer Beziehung sicher und trotzdem frei zu fühlen? In vielen nicht-monogamen Beziehungen wird versucht, diese neu und abseits normativer Vorstellungen zu verhandeln. Von Bedürfnissen, Grenzen und Offenbarungen. Text und Illustration von Paula Friedel.

Ich lerne Caro nackt und mit einer Kelle voller Pfannkuchenteig in der Hand kennen. Eigentlich ist es eine sehr gewöhnliche WG-Party-Situation: Es ist noch recht früh, 17 oder 18 Uhr, Leute kommen an, und in der Küche versammelt sich unaufgefordert eine kleine Gruppe FLINTA*, um das Essen vorzubereiten. Das einzig Ungewöhnliche: Bis auf wenige BHs und Unterhosen sind alle herumwuselnden, Gemüse schnippelnden und in Töpfen rührenden Personen nackt. Wir kommen ins Gespräch – über soziale Nacktheit, Sexualität, Freund*innenschaft und Liebe.

Verschiedene Filterblasen
Caro ist bei Darmstadt aufgewachsen. Von nicht-monogamen Beziehungen bekam sie als Teenager kaum etwas mit. In ihrem Umfeld gab es niemanden, der*die eine von der vorgelebten Norm abweichende Beziehung geführt hätte. Aber sie erinnert sich an einen Schlüsselmoment, als sie sechzehn Jahre alt war. »Abends saßen wir im Park«, erzählt sie. »Und dann habe ich von irgendwem gehört, dass es ja okay ist, dass die eine jetzt mit dem ander’n rumknutscht, die haben ja ‘ne offene Beziehung. Und ich hab die Ohren gespitzt, hatte aber keine Ahnung, was das ist.«

Nach ersten monogamen und nicht-monogamen Beziehungserfahrungen und einem abgeschlossenen Studium in Darmstadt lebt Caro in Berlin. Heute ist ihr Umfeld sehr anders. »Ich habe das Gefühl, in einer Filterblase zu leben, wo es fast schon die Regel ist, dass Menschen offene Beziehungen haben«, erzählt sie. Durch ihre erste offene Beziehung und den Freund*innenkreis ihres Ex-Partners hatte sie begonnen, sich intensiv mit verschiedenen Beziehungskonzepten auseinanderzusetzen. »Ich hab dann versucht, mich durch die verschiedenen Konzepte durchzufühlen. Immer wieder neu zu verstehen, was alle Beteiligten brauchen, hat mir am meisten beigebracht.«

Das gesamte Beziehungsmenü betrachten
Caro ist begeistert von den Erfahrungen, die sie außerhalb der monogamen Norm macht. »Gerade in den ersten Poly-Jahren habe ich das Poly-Sein als Offenbarung empfunden«, sagt sie. »Und ich dachte mir: Oh mein Gott, alle sollten Poly sein. Alle sollten sich mit diesen Konzepten auseinandersetzen. Es ist so krass, wie schön und erfüllend Beziehungen sein können, wenn man sich plötzlich die Mühe macht, sich mit dem, was außerhalb des Vorgelebten liegt, auseinanderzusetzen.« Nach einer Weile hätte sie allerdings gemerkt, dass es doch eine sehr persönliche und individuelle Sache sei. »Es ist wichtig, gemeinsam das gesamte Menü von Beziehungsformen zu betrachten und zusammen auszuwählen, anstatt Beziehungen als one-size fits all zu sehen. Und natürlich gehört auch Monogamie zu den Möglichkeiten. In Berlin habe ich manchmal das Gefühl, Leuten gut zureden zu müssen, dass es okay ist, dass sie eine monogame Beziehung haben wollen. Und dass Poly leben kein Zeichen für Coolness ist, für das man sich auch nicht verbiegen muss.«

Für diese Eigendynamik von Beziehungen gibt es in der Poly-Szene eine Metapher: den relationship-escalator, die Beziehungsrolltreppe. »Wenn du dich auf eine Rolltreppe stellst und nichts machst, dann fährst du einfach hoch«, beginnt Caro. »Bezogen auf eine Beziehung heißt das dann: Du machst nichts und plötzlich bist du zehn Jahre zusammen, hast Kinder und ein Haus. Irgendwie ist klar, wo es hingeht. Die Idee bei vielen Poly-Beziehungen ist: Lass uns doch runtergehen von dieser Rolltreppe und herausfinden, was davon wir wirklich machen wollen.« In Gefühlen und Bedürfnissen gesellschaftlich vorgelebte Muster nicht nachahmen zu müssen, ist für Caros Verständnis von Poly ein wichtiger Aspekt. »Poly sein sagt: Du bist dein eigener Mensch. Dein Körper ist in keinster Weise beschmutzt, weil du mit anderen Menschen Sex hast.«

Illustration: Paula Friedel

Die Freiheit sowie die emotionale Tiefe, die über gute Kommunikation entstehen kann, sind für Caro das Poly-Ideal. Sie erzählt, dass ihr immer wieder aufgefallen ist, wie gut Ex-Partner*innen in der Poly-Szene miteinander umgehen. Anders als es sonst oft erlebt und dargestellt würde, funktioniere es häufig, auch nach einer Beziehung noch eine gute Basis zu haben. Dennoch sei es wichtig zu erwähnen, dass es auch in nicht-monogamen Beziehungskonstellationen extrem ungesunde Muster gebe und sich Menschen nicht trauen würden, ihre Bedürfnisse auszudrücken. »Kommunikation auf Augenhöhe und respektvoller und liebevoller Umgang hängt nicht von der Beziehungsform ab«, erklärt sie.

„Alles, was wir tun, hat eine Bedeutung.“
Eine differenzierte Perspektive auf Sexualität und Beziehungen hat auch Sabine Hinrichs-Michalke. Sie arbeitet seit 2011 als Paar- und Sexualtherapeutin in Varel bei Oldenburg. Auch sie beobachtet bei ihren Klient*innen ein zunehmendes Bewusstsein für Beziehungsformen außerhalb der Monogamie. »Was ich feststelle, ist, dass die Frage nach dem passenden Beziehungsformat oft eine ganze Menge Druck generiert«, berichtet sie. Viele der Paare, die zur Beratung zu ihr kommen, seien in dieser Frage verschiedener Meinung, oder es seien bereits abgemachte Grenzen überschritten worden. Freiheit und Treue sind Themen, die in Beziehungen häufig zu Konflikten führen würden.

»Treue ist ein sehr großer Wert«, erzählt Hinrichs-Michalke. »Wenn du in die Fußgängerzone gehst und Menschen dazu befragst, ob ihnen sexuelle Treue in Beziehungen wichtig ist, dann bekommst du immer einen Wert, der über 90 Prozent liegt. Dagegen steht, dass es in jeder zweiten bis dritten Beziehung schon einmal sexuellen Außenkontakt gegeben hat. Man kann nicht sagen: entweder sexuelle Treue oder sexueller Außenkontakt. Es scheint, dass beides etwas Wichtiges aussagt über uns Menschen.«
Um zu rechtfertigen, selbst festgelegte Grenzen überschritten zu haben, würde es sich manchmal zu leicht gemacht, zum Beispiel mit den Worten ›Aber es hat nichts zu bedeuten, es ist nur Sex‹. An dieser Stelle sei es wichtig, das zu hinterfragen, sagt Hinrichs-Michalke. »Und zu fragen: ›Inwiefern ist denn bedeutungsloser Sex interessant für Sie?‹ Dieses Narrativ ›es hat nichts zu bedeuten‹ sollte man nicht übernehmen. Denn alles, was wir tun, hat eine Bedeutung.«

Was geschieht aber, wenn eine Grenze verletzt und das Vertrauen erschüttert wurde? Fremdgehen oder Betrug werden in Medien häufig als Drama und Trennungsgrund Nummer eins inszeniert – mit Geschirr-an-die-Wand-Werfen und Socken-Verbrennen. Das sei ebenfalls Teil des Problems, erzählt Sabine Hinrichs-Michalke. »Beziehungen scheitern nicht daran, dass eine*r mal einen sexuellen Außenkontakt hatte oder ›fremdgegangen‹ ist. Beziehungen scheitern daran, dass es danach keine gute Möglichkeit gibt, darüber ins Gespräch zu kommen.«

Ob in einer monogamen oder nicht-monogamen Beziehung – Kommunikation scheint das Stichwort zu sein. Für eine gut funktionierende nicht-monogame Beziehung braucht es laut Hinrichs-Michalke zusätzlich noch gute Selbstkenntnis und die Bereitschaft, mit den eigenen Gefühlen und Ängsten umzugehen. Das ist eine lange Liste von Dingen, die den meisten nicht besonders leichtfallen. Besonders männlich sozialisierten Personen werde zu wenig beigebracht, mit ihren eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer umzugehen, beobachtet Caro. Dies führe auch dazu, dass die emotionale Mehrarbeit, die durch eine nicht-monogame Beziehung entsteht, mehr von FLINTA* übernommen werde. Sind wir emotional überhaupt bereit für nicht-monogame Beziehungen?

„Das kommt darauf an, welche anderen Hobbies du noch hast.“, sagt Hinrichs-Michalke lachend. »Das Tolle an der Frage nach der passenden Beziehungsform ist die Erkenntnis, dass Beziehungen gefüttert und gepflegt werden wollen, egal unter welchem Label.«

Illustration: Paula Friedel

Poly leben oder Poly sein?

In ihren ersten Poly-Jahren hat Caro sich sehr mit dem Poly-Sein identifiziert. Heute, so sagt sie, hat sich dieses Ich bin Poly zu einem Ich lebe Poly entwickelt – eine Lebensweise, die sich auch verändern darf. Dass Beziehungsformate etwas von uns Geschaffenes und Wandelbares sind, betont auch Sabine Hinrichs-Michalke: »Niemand ist Poly. Wir entscheiden uns für ein Beziehungsformat. Das ist die Denkleistung, die wir an der Stelle erbringen müssen. Die Polarität bringt uns nicht weiter und es ist notwendig, zu differenzieren: Nicht Poly oder monogam – sondern vielleicht sogar je nachdem. Eine junge Mutter wird diese Frage anders beantworten als eine Frau in einer anderen Lebensphase. Das ist ja auch das Tolle an Sexualität, dass wir nicht mit einer bestimmten Art, Sex und Beziehung zu leben, auf die Welt kommen, sondern dass sich das wandelt, genauso wie wir uns wandeln.«

Ob freiere Liebe und Sexualität uns zu freieren Menschen macht? »Ich habe schon so viele Poly-Dramen miterlebt…«, seufzt Caro. Deswegen sei sie sich da nicht sicher. Auch monogame Beziehungen könnten erfüllt und unabhängig sein. Trotzdem war und ist ihr Leben in Poly-Beziehungen eine Möglichkeit und ein Katalysator für persönliches Wachstum, und das Erleben von Intimität und Vertrauen ist eine große Bereicherung. Das bemerkt sie auch in ihrer jetzigen Beziehung mit ihrer Partnerin. »Dieses extra Vertrauen, das ich dadurch gewinne. Sie kann mit allen Personen auf dieser Welt schlafen, und trotzdem entscheidet sie sich dafür, dieses schwierige Gespräch mit mir zu führen.«

Die WG Party entwickelt sich wie jede andere: Tanzen, Jamsession im Wohnzimmer und Kiffen auf dem Balkon. Dass manche der Gitarre spielenden oder tanzenden Menschen nackt sind, merke ich irgendwann nicht mehr. Bald sind die Pfannkuchen fertig. An der Küchentür hängt eine Postkarte mit der Aufschrift: Freiheit macht Liebe, Liebe macht Freiheit.

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