Schöne heile Welt 

Ausgestiegen, aber wohin? Klimawandel, Konsumkapitalismus und eine wachsende Entfremdung in einer zunehmend digitalisierten Welt: Die Kommune Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung versucht der bevorstehenden Dystopie eine Utopie entgegenzusetzen. 

Foto: Constanze Baumann

In Bad Belzig, einer Kleinstadt etwa 90 Kilometer südwestlich von Berlin, hat es den Anschein, als ob das Leben einem langsameren Takt folgen würde. Noch vor zwei Stunden stand ich gestresst zwischen zahllosen Fremden in der überfüllten U8 – jetzt ist die Unruhe Berlins auf einmal weit entfernt. Es sind nur wenige Personen auf den Straßen unterwegs. Die meisten Läden haben geschlossen, obwohl es Samstag ist. Vereinzelt segeln blasse Laubblätter auf den Boden. In einem halbleeren Bus fahre ich durch die leergefegte Altstadt, vorbei an flachen Wohnsiedlungen, Feldern und Äckern bis an den äußersten, nördlichen Rand der Stadt. An einer Landstraße steige ich schließlich aus. Hier, mitten im Naturpark Hoher Fläming, liegt das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, kurz ZEGG.

Aktuell leben in der Kommune 110 Personen. Darunter sind zehn Kinder und Jugendliche. Wie in einem kleinen Dorf gibt es auf dem Gemeinschaftsgrundstück ein Restaurant, ein Kunstatelier, diverse Seminarräume, Gästehäuser, einen Fahrradverleih und sogar eine Bibliothek. Zwischen verwilderten Wiesen und Waldflächen stehen ein paar schlichte Gebäude, in denen die Bewohner*innen wohnen. Eine getigerte Katze streift sorglos umher, ein paar Amseln rascheln im Laub.

Heute verspricht das Ökodorf Sicherheit, Freiheit, Liebe und Tantra-Seminare. Doch der Ort hat Geschichte: Im Nationalsozialismus war er Veranstaltungsort für ein Ferien- und Sportlager der Deutschen Arbeitsfront, zu DDR-Zeiten residierte auf dem Gelände eine Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Katrin Becker, eine der Bewohner*innen, wartet vor dem Restaurant. Seit über zehn Jahren wohnt die 30-Jährige bereits in der Gemeinschaft. Sie trägt einen kuscheligen Strickpullover, ihre langen dunkelblonden Haare fallen locker über ihre Schultern. Die junge Mutter ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und arbeitet als Yogalehrerin, Geburtshelferin und spirituelle Energiearbeiterin. Bei einer Tasse Ingwer-Zitronen-Tee in der Dorfkneipe erzählt sie von ihrem Leben im ZEGG. In dem Ökodorf ist sie mehr oder weniger aufgewachsen. Im Rahmen von Pfingst- und Sommercamps verbrachte sie schon als Kind viel Zeit hier. Nach dem Abitur und einem Freiwilligen Ökologischen Jahr im ZEGG, war für sie die Entscheidung, fest einzuziehen, schnell gefallen.

Im Unterschied zu den meisten anderen Kommunen, von denen es in Deutschland derzeit über 150 gibt, müssen die Mitglieder im ZEGG ihr Privatvermögen nicht aufgeben. Geteilt werden lediglich Autos, Wohnräume, Haushalts- und Gartengeräte. Die Vorstellung, dass sich die Kommunard*innen auch die Partner*innen frei untereinander teilen würden, treffe nur bedingt zu, sagt Katrin. Auch wenn  Liebe und Sexualität nach wie vor eine große Rolle spielen würden, gebe es selbst hier einen gewöhnlichen Alltag. »Das ZEGG ist kein Hippie-Laden mehr, wie er das vielleicht kurz nach der Wende einmal war«, sagt sie. Neben polyamoren, offenen und gleichgeschlechtlichen Beziehungen sei auch die monogame heterosexuelle Kleinfamilie vertreten. Von den Aussagen des Gründers Dieter Duhm, der in seinem Buch Angst im Kapitalismus Vergewaltigung verharmloste, distanziert sich die Gemeinschaft heute.

Foto: Constanze Baumann

Katrin lebt mit Partner und Sohn in einer 4-er WG. Auch wenn ihr Sohn auf dem Gelände nicht viele Gleichaltrige zum Spielen hat, sieht die gebürtige Frankfurterin hier zahlreiche Chancen für ihn. In der Gemeinschaft könne er sich, anders als in einer Großstadt, seine Bezugspersonen selbst aussuchen. Außerdem erhofft sie sich, dass er mit einem besseren Körper- und Selbstbild aufwächst. Persönlichkeitsentwicklung, Offenheit und Zwischenmenschlichkeit sind Werte, die einen hohen Stellenwert haben. Es sei normal, dass sich alle schon nackt gesehen hätten. 

Allerdings bergen diese Nähe und Intimität auch viel Konfliktpotenzial. Obwohl ein Leben im ZEGG für viele die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen bedeute, sei vieles anstrengender. Man habe immer Menschen um sich herum und sei nie wirklich alleine. Hier würde man in den Gesprächen und Seminaren ganz anders mit seinen eigenen Problemen konfrontiert werden als andernorts. Das kann mitunter nicht nur befreiend, sondern auch emotional herausfordernd sein. Aus diesem Grund gibt es jede Woche ein dreistündiges Gemeinschaftstreffen, bei dem die Bewohner*innen ihre Gefühle und Probleme teilen können. Auch Mediation kann bei Konflikten in Anspruch genommen werden, sofern sich beide Parteien dazu bereit erklären.

Foto: Constanze Baumann

›Wir selbst müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen‹, steht draußen auf einem Plakat. Das Zitat von Gandhi ist Programm: Entscheidungen werden im ZEGG stets im Konsens getroffen. Der ökologische Fußabdruck soll zudem so gering wie möglich gehalten werden. Ein Großteil des Bedarfs an Obst und Gemüse wird deswegen in Eigenproduktion angebaut – der Rest ­von einem regionalen Biohändler zugekauft. Wer will, kann in einer Art Kantine mit den anderen essen. Alles ist vegetarisch oder vegan. »Ich glaube, wir könnten wesentlich ressourcenschonender mit unserer Umwelt umgehen, wenn mehr Menschen so leben würden, wie wir hier«, sagt Katrin.

Doch der Traum von einer besseren Welt ist nicht kostengünstig und der Aufnahmeprozess aufwändig. Nachdem man das ZEGG durch Seminare oder ein Praktikum kennengelernt hat, folgt ein fünfwöchiger Gemeinschaftskurs, der je nach Einkommen zwischen 940€ und 1640€ kostet und eine einjährige Probezeit, genannt Status X. Diejenigen, die es durch die lange Bewerbungszeit geschafft haben, zahlen anschließend regulär Miete. Die ZEGG gGmbH finanziert sich durch Seminare, Workshops und Festivals, die fast das ganze Jahr über stattfinden. Viele Bewohner*innen arbeiten deshalb im hauseigenen Veranstaltungsbetrieb. Jobs außerhalb sind aber auch möglich. Feststeht: Alle packen im Betrieb tatkräftig mit an, helfen mal hier, mal dort – ob beim Abwasch, Kochen oder Putzen.

Aussteiger*innen sind die Menschen im ZEGG also nicht. Katrin geht zum Beispiel öfter in die Belziger Steintherme oder fährt auch mal gerne übers Wochenende nach Berlin. »Freiheit ist etwas, das in uns stattfindet. Für mich bedeutet das, mich immer wieder neu entscheiden zu können. Manchmal heißt das, mich in den Zug zu setzen und nach Berlin zu fahren, um zwei Tage zu machen, was ich will. Manchmal ist es genau andersherum.«

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