Oberkörperfrei

Würde sich die Gesellschaft 1200 Bilder nackter Körper anschauen – das Ergebnis unseres Shoots – wäre klar: Es sind nur Körper. Normalisiert Titten. Text und Bilder von Emma Mehl und Paddy Lehleiter.

Fotos: Emma Mehl und Paddy Lehleiter

Ich gehe oberkörperfrei aus dem Haus meiner Freundin. Es ist Pride-Wochenende in Berlin. Mein schwuler Freund zeigt Nippel, ich zeige Herz-Nippelsticker in Regenbogenfarben. Seit meinem Outing als nicht-binär ist mein Oberkörper für mich nichts mehr, was sexy sein muss. Meine Brüste sind nicht die einer Frau, sondern einfach große, hängende, vernarbte Brüste an einem Oberkörper.

Wir sind auf dem Weg zum Christopher Street Day. Ich zuppel an meiner Anzugweste, die lose über meinem Oberkörper hängt. Eine Person ruft „slay!“, eine andere lächelt mich an. Sie geben mir ein Gefühl von Mut. Ich fühle mich gesehen, dennoch bleibt ein leises Gefühl von Unwohlsein zurück. Als wir uns für eine Pause von der Parade ins Gras setzen, ziehe ich meinen Pullover über. Fette nicht-binäre Titten, okay, aber im Sitzen fühle ich mich dann doch zu hässlich, als dass ich sie einfach baumeln lassen könnte.

Wir tanzen auf der Parade, meines Pullis und der Weste habe ich mich wieder entledigt. Eine Person sieht mich an, grinst und zieht deren Shirt aus. Wir tanzen gemeinsam, es wackelt – ich fühle mich nicht unbedingt wohl, aber zugehörig. Ein Typ geht zu meinem Freund, möchte ihm sagen, dass er schön finde, was wir machen. Er sage es aber lieber ihm und nicht uns. Er möchte nicht anstößig sein oder vor allem nicht so wirken. Bad luck, mein Freund spricht kein Deutsch und ich darf übersetzen: „He likes our boobs, but not in a disgusting way – I guess“. I guess – aber unangenehm ist es trotzdem. Eine Wahl habe ich nicht, es wird nie nicht-radikal sein, meine Brüste zu zeigen. Mein nicht-binärer, dicker Körper kann, anders als männlich gelesene Körper, nicht unpolitisch nackt sein. Das ist einschränkend, aber gibt mir die Möglichkeit, ein Statement zu setzen; einfach, indem ich mein Shirt ausziehe. Aber ich will nicht immer Statements setzen. Weibliche, trans*, inter, behinderte und queere Menschen möchten auch einfach ihr Shirt ausziehen, wenn es warm ist. Wenn wir schwimmen oder uns sonnen wollen. Wenn wir es bequem haben wollen.

Foto: Emma Mehl und Paddy Lehleiter

Unfrei, unfreier, am unfreisten

Aber wie kann es sein, dass manche (Ober-)Körper unfreier sind als andere? Nach Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes sind Männer und Frauen gleichberechtigt; nach Absatz 3 darf überhaupt niemand aufgrund seines*ihres Geschlechts benachteiligt werden. Seit März letzten Jahres ist es in Berlin explizit erlaubt, geschlechtsunabhängig oberkörperfrei zu baden. Dabei hätte es laut Grundgesetz nie verboten werden können. Und trotzdem schwirrt über uns allen dieses ungeschriebene Gesetz, dass es nicht okay sei, weiblich gelesene Brüste in der Öffentlichkeit zu zeigen. Kleinen Kindern werden Bikini-Oberteile angezogen, die etwas verdecken sollen, was gar nicht da ist. Weiblich gelesene Oberkörper sind verboten und sexuell, selbst wenn sie zum Stillen eines Kindes entblößt werden. So weit, so unfrei. Aber was kann man machen? Sich bei jeder möglichen Gelegenheit das Shirt vom Körper reißen? Oder es aus Solidarität mit FLINTA* anbehalten?

Foto: Emma Mehl und Paddy Lehleiter

Was bei diesen Diskussionen oft nicht mitgedacht wird, ist, dass ein weißer, protestierender Körper Privilegien hat, die nicht-weiße Körper nicht genießen. Besonders an der Free-the-Nipple-Bewegung, die 2012 von der Filmemacherin Lina Esco ins Leben gerufen wurde, wird kritisiert, dass sie sich auf weiße Frauen konzentriere. Sie führen die Proteste an, sind auf den Plakaten zu sehen und erkennen nicht, dass das Thema nicht alle weiblich gelesenen Personen gleichermaßen betrifft. Sexuelle Objektifizierung ist nicht uniform. Die Fetischisierung Schwarzer Körper hat eine lange koloniale Geschichte, die nicht einfach durch das Ausziehen eines Kleidungsstücks wettgemacht werden kann. Oberkörperfrei-Demonstrationen haben zudem häufig ein extra großes Polizeiaufgebot zum Schutz der Demonstrierenden. Aber was, wenn man sich dadurch nicht sicherer fühlt?

Und was machen wir jetzt? Das Problem sind nicht die Körper. Das Problem sind die Blicke, die Worte, die Übergriffe. Wir sollten alle erstmal bei uns selbst und dem eigenen Handeln anfangen. Aber wir müssen auch mit den Menschen in unserem Umfeld über diese Themen reden. Wenn wir etwas Übergriffiges hören oder sehen und wir uns sicher genug fühlen, um einzugreifen, dann sollten wir das auch tun. Gerade wenn es Freund*innen sind, die sich falsch verhalten.

Foto: Emma Mehl und Paddy Lehleiter

Sicherheit oder Sichtbarkeit?

Viel braucht es nicht, damit Personen denken, sie dürften sexuell übergriffig werden. Ein weißes, durchsichtiges, bauchfreies Oberteil über großen, weiblich gelesenen Brüsten reicht. Eine Woche nach dem CSD verlasse ich (noch) selbstbewusst mein Haus. Mir ist schon bewusst, dass meine Nippel unter dem Shirt sichtbar sind, aber ich unterschätze, wie sehr Menschen es für nötig halten, mich wissen zu lassen, dass meine Brüste nicht sichtbar sein dürfen. Einer hupt, der nächste Passant hält 15 Sekunden Augenkontakt mit meinen Nippeln. Als die U8 einfährt, sehe ich, wie vier Menschen im Zug auf mich zeigen. Ihre Gesichtsausdrücke bewegen mich dazu, lieber in den nächsten Wagen zu steigen. Mitteilungsbedürftig wie ich bin, öffne ich danach Instagram und mache eine Story. Ein Mann läuft hinter mir durch das Bild und sagt irgendetwas mit „tits“. Ich zeige ihm den Mittelfinger und sage „point proven“ in die Kamera. Ich frage eine Freundin, die ganz in der Nähe wohnt, ob ich mich bei ihr umziehen darf.

Ich kann mich über diese Dinge lustig machen, die am helllichten Tag passieren. Ich bin weiß, cis-passing und able-bodied was bedeutet, dass ich viele unschöne bis gefährliche Situationen nie erleben werde, die meine BIPoC, behinderten und non-cis-passing Freund*innen täglich durchmachen müssen. Trotzdem reicht es, ein durchsichtiges Top zu tragen, um so übergriffig behandelt zu werden, dass ich mich weder wohl noch sicher und erst recht nicht mehr selbstbewusst fühle. Das Haus meiner Freundin verlasse ich statt bauchfrei in einem großen, grauen T-Shirt. Ich fühle mich sicherer, ich fühle mich unsichtbarer. Sicherheit und Sichtbarkeit sollten sich für queere Menschen nicht ausschließen.

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