LIBERTAS

Eine Kurzgeschichte von Julie Rechenberg.

Zwei Wochen sind vergangen, seit Cora herausgefunden hatte, dass ihr Leben auf einer Lüge basierte. Sie zählt nun nicht mehr das Jahr 99 wie der Rest von LIBERTAS, sondern das Jahr 2199, wie es nach der Zeitrechnung der Alten Welt der Fall wäre. Die Welt, von deren Existenz sie seit 14 Tagen weiß. Die Welt, die so viel größer war als das, was ihr jahrelang als ihre Welt gepredigt wurde. Ihre Welt war LIBERTAS.

Schon in jüngster Kindheit war Cora eingeschärft worden, ihr Haus nach der automatischen Abschaltung aller Lichter in LIBERTAS nicht mehr zu verlassen. Jede Nacht wurden die Rollläden heruntergelassen und alle Türen verriegelt. Im Namen der Freiheit. Vor zwei Wochen hatte sie den Entschluss gefasst, sich dem Verbot zu widersetzen. Es war ihr ein Rätsel, wie scheinbar niemand ein Problem damit zu haben schien, dass willkürliche Regeln ihren Alltag formten, dass sie tagsüber auf Schritt und Tritt von Robotern begleitet wurden und Fragen nur mit der Floskel »Im Namen der Freiheit« beantwortet wurden. Mit »Du lebst in Freiheit. Wozu also Fragen stellen?«, hatten ihre Eltern immer versucht, ihren Durst nach Erklärungen zu stillen. Doch dieser Durst, der in Cora über die Jahre hinweg immer weiter angewachsen war, konnte durch Antworten wie diese nicht mehr gemildert werden.

***

Zwei Wochen zuvor

LIBERTAS war dunkel, doch auf dem Boden blinkten durch rote Lichterreihen abgegrenzte Pfade, auf denen eifrig Roboter hin und her fuhren und große Wägen mit Kisten und zugeschnürten Beuteln hinter sich herzogen. Sie steuerten damit alle auf den riesigen Turm zu, den man als Das Herz von LIBERTAS bezeichnete, übergaben die Ware an ihre bereitstehenden Artgenossen und machten sich wieder auf den Weg, um die nächste Ladung abzuholen. Mit gebührendem Abstand folgte Cora den wieder ausmarschierenden Robotern, bis sie das Ende ihrer Welt erreichte. Dort machte sie eine Entdeckung, die die Grenzen des für sie Möglichen bis in die Unendlichkeit sprengte: Eine Öffnung, die in eine dunkle, unendliche Weite führte. Die Roboter passierten sie, als gäbe es nichts Natürlicheres, doch Cora stand für eine lange Zeit zitternd und mit zu Fäusten geballten Händen da, während ihr Weltbild in sich zusammenfiel und ihr Leben unter sich begrub.

Illustration: Julie Rechenberg.

Sie konnte sich nicht erklären, wie sie auf diese brandgefährliche Idee kam. Doch es gelang ihr tatsächlich, in einen der zurück fahrenden Wagen zu klettern, ohne entdeckt zu werden, und somit in das Innere des Herzens von LIBERTAS zu gelangen, das zu betreten nur den hohen Beamt*innen gestattet war. Dort schlich sie mit pochendem Herzen durch die schwach rot ausgeleuchteten Räume, bis sie auf einen Raum, mit der Aufschrift Archiv der alten Welt bis 2100, stieß, dessen Inhalt ihre in Trümmern liegende Welt um ein weiteres Mal erschütterte.

***

Die letzten zwei Wochen hatte Cora damit verbracht, die Texte und Quellen aus dem Archiv zu untersuchen. Eines der ersten Dokumente, auf das sie gestoßen war, war der Plan LIBERTAS. Daher wusste sie mittlerweile, dass die Menschen der Alten Welt mit etwas, das sich »Klimawandel« nannte und mit Kriegen zu kämpfen hatten. Wenn man dem Dokument Glauben schenkte, war die Menschheit dabei gewesen, »sich selbst zu exterminieren« und die Lösung dafür war LIBERTAS: eine eigenständige Stadt unter einer Käseglocke. So übersetzte Cora zumindest die seitenlange Beschreibung der Stadtkonstruktion, der technischen Verfahren und der chemischen Zusammensetzungen des Baumaterials. Die Mitglieder der »LIBERTAS-Gesellschaft« waren dazu angehalten, niemanden in das Vorhaben einzuweihen, da nur 25 Mitarbeitende aus den Chefetagen und ihre Familien Schutz in LIBERTAS finden sollten. Den anderen Personen, die am Bau beteiligt waren, wurde ebenfalls ein Platz in LIBERTAS versprochen, doch sollte es nie dazu kommen. Sie waren nur »Kollateralschäden, die man im Namen der Freiheit in Kauf nehmen muss«. Der Öffentlichkeit gegenüber wurde vorgegeben, es handele sich bei der riesigen Baustelle um ein Zentrum für erneuerbare Energien, was der Firma eine Menge staatlicher Zuschüsse sicherte. Doch dann, von einer Nacht auf die andere, war die Baustelle verschwunden und an ihrer Stelle bloß tote Erde. Dies lag an einem aufwändigen Verfahren – das Cora mitsamt der »Notfallpläne« ebenfalls nur kurz überflog –, welches zur Folge hatte, dass LIBERTAS von außen nicht mehr zu sehen war. Man konnte also einfach hindurchschauen. Ebenso konnte man aus LIBERTAS nicht mehr hinausblicken. Um nicht vom Rest der Menschheit entdeckt zu werden, wurde um LIBERTAS herum ein »Verteidigungssystem« errichtet, das Cora aber nicht ergründen konnte. Die betreffenden Zeilen waren geschwärzt worden. Der Rest des Textes aber war glücklicherweise noch lesbar. So erfuhr sie, dass die Roboter nachts auszogen, um verbliebene Ressourcen »mit allen erforderlichen Mitteln, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden« nach LIBERTAS zu schaffen. Das hatte sie also in jener Nacht beobachtet.

Seitdem sie das Dokument gelesen hatte, schwirrten viele offene Fragen in Coras Kopf herum. Gab es draußen, fast ein Jahrhundert nach der Inbetriebnahme LIBERTAS’, immer noch Menschen? Brauchten sie Hilfe? War die Alte Welt noch bewohnbar? Wer in LIBERTAS wusste noch von der Alten Welt? Ihre Eltern ganz bestimmt nicht. Sie waren genauso geblendet, wie sie selbst es vor zwei Wochen noch gewesen war. Aber die hohen Beamt*innen, die als Einzige Zutritt zum Herzen von LIBERTAS hatten? Oder Familienmitglieder aus einer älteren Generation? Irgendjemand musste ja Bescheid wissen und sicher gehen, dass die nachfolgenden Generationen weiterhin so »gebrainwashed« (ein für Cora neuer Begriff, den sie in einem Zeitungsartikel aufgeschnappt hatte) wurden, dass sie dachten, sie seien alleine auf der Welt und lebten in Freiheit. Denn auch zum Thema Freiheit hatte sie sich einige Artikel und Definitionen durchgelesen und war zu der Erkenntnis gekommen, dass die Art von Freiheit, die in LIBERTAS herrschte, nicht die Art von Freiheit war, in der sie leben wollte. Sie war frei von Hunger, von Krieg, von Zukunftsängsten. Aber sie war nicht frei zu denken, was sie wollte, zu den Zeiten ihr Haus zu verlassen, wann sie wollte, und Antworten auf Fragen zu bekommen, die sie stellte. Diese Art von Freiheit schränkte die potenziellen Überlebenden in der restlichen Welt in ihrer Freiheit ein, da LIBERTAS ihnen alles nahm. 

Cora war klar, dass sie handeln musste. Dass sie mit diesem Wissen ihr unbeschwertes Leben in LIBERTAS nicht weiterleben konnte. Aber was sollte sie unternehmen? Sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, LIBERTAS zu verlassen. Doch was bedeutete schon das Verschwinden einer einzigen Person im Angesicht der gewaltigen Ungerechtigkeit? Nichts! Die Wut packte sie. Darüber, dass eine kleine Elite von Menschen es sich gemütlich machte, während die Welt förmlich in Flammen aufging. Darüber, dass sie verschont geblieben war, während andere Menschen dem Tod ausgeliefert wurden. Darüber, dass die Bewohner*innen LIBERTAS in Unwissenheit darüber waren, mit welcher Erbschuld sie lebten oder es möglicherweise teils bewusst ignorierten. Sie verdienten es nicht, weiterhin geschont zu werden. Sie sollten die Wahrheit erfahren, sie sehen, sie spüren! Ihre Gedanken schweiften kurz zu ihren Eltern. Sie zögerte bei dem Gedanken, dass sie mit dem, was auch immer sie entschied, auch ihre Welt aus den Fugen reißen würde. Doch sie konnte sich davon nicht abhalten lassen. Die ganze Welt sollte wissen, was passiert war… was immer noch passierte. Und da fiel ihr das Kapitel »Notfallpläne« wieder ein.

***

Cora steht eine Nacht später mit einem speziellen Notfallhammer, den sie aus dem großen Turm (den offiziellen Titel will Cora nicht mehr verwenden) hat mitgehen lassen, an der Schwelle zwischen den Welten. Die einst unüberwindbare Barriere, die LIBERTAS von der übrigen Welt trennt, erscheint ihr mit ihrem jetzigen Wissen nur noch wie eine große Seifenblase. Fest entschlossen holt sie mit dem Hammer aus – und LIBERTAS zerbirst –

Illustration: Julie Rechenberg.

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