Der Flaneur nimmt die Retrospektive ein: Er begibt sich auf die Spuren ehemaliger Kommilitonen. Ein herbstlicher Streifzug hinter Dahlems Friedhofsmauern.
Von Carolin Benack und Kim Winkler
Auch wem es mit der letzten Ruhe nicht eilt, dem sollten Friedhöfe ein schätzenswerter Ort sein. Wie kein Stadtpark es könnte, inspiriert der örtliche Totenacker zu Reflexion und Selbsterkenntnis. Der Friedhof Dahlem an der Königin-Luise-Strasse schließt direkt an den St.-Annen-Kirchhof an. Dort wurde es irgendwann zu eng für die Verblichenen, weshalb 1908 die Säkularisierung in Dahlem aufgehoben wurde: Der evangelische Friedhof rund um die St.-Annen-Kirche wurde um einen städtischen erweitert. Sterbliche Überreste aus acht Jahrhunderten mahnen heute an die eigene Vergänglichkeit. Doch sollte man den trüben Gedanken nicht allzu viel Beachtung schenken. Im Gegenteil – schmeicheln doch die hübschen Herbstbepflanzungen und die harmonischen Arrangements der Gräber jedem Ästheten. Von einer Bank aus eröffnet sich ein Blick auf ein kleines Tor, das weiter in den Friedhof hineinführt.
In ewiger Ruhe zusammengepfercht
Ein Meer aus Herbstblättern erhebt sich hinter der Eingangspforte. An manchen Stellen überschwemmt es die Namen der Toten. Nicht aber die Namen derer, die von der Stadt Berlin als wichtig erachtet werden und deshalb ein Ehrengrab bekamen. Schon bald offenbart sich die postume Ruhestätte unseres Kommilitonen und Springer-Lieblings Rudi. Das äußerst unspektakuläre Grab steht in krassem Kontrast zum bewegten Leben des Studentenführers. Würde ihn dafür der Rudi-Dutschke-Weg auf dem Gelände der Freien Universität erfreuen? Vermutlich schämte er sich eher angesichts der Leistungsträger züchtenden Elite-Uni, die aus ihr geworden ist.
Ebenfalls laublos sind die Grabsteine unserer geistigen Väter, den FU-Mitbegründern Edwin Redslob und Friedrich Meinecke, letzterer Namensgeber des Instituts für Geschichte. Wörtlich in den Schatten stellt die anderen Gräber das Mausoleum des Johann Ludwig Leichner. Leichner war nicht nur ein großartiger Bariton, er erfand zudem die bleifreie Theaterschminke. Er bewahrte damit seine Theaterkollegen nicht nur vor schwer heilenden Abszessen der Gesichtshaut, sondern auch vor einem im wahrsten Sinne verfrühten Bühnentod. Durch seine zweite Karriere als Großfabrikant entging er dem typischen Ende gealterter Künstler: Leichner starb glücklich und vor allem reich.
An meinem Grabe sollst du stehen
Der über dem Friedhof hängende Todesgeruch verführt dazu, auch über das eigene Ende nachzudenken. Besonders die Gestaltung der Ruhestätte wirft Fragen auf. Ein einfacher Grabstein à la Dutschke ist eher etwas fürs Bas peuple. Dann lieber den eigenen Namenszug in Marmor, noch zu Lebzeiten möglichst unkenntlich zu Papier gebracht. Dieser Trend geht auf eine Initiative der Märkischen Ärzteschaft zurück. Ihre Mitglieder verfügten in den 1950er Jahren testamentarisch die eigene Unterschrift auf dem zukünftigen Grabstein. Begründung: Ein lesbarer Name wiederspiegle nicht ihren Beruf und damit ihren sozialen Status. Eine Modeerscheinung ohne Schick und falsch verstandener Pragmatismus.
Noch einmal schweift der Blick hinüber zu Leichner. Ein Mausoleum? Das liefe Gefahr, geplündert und geschändet zu werden. Nach kolonialem Vorbild hat es im letzten Jahrhundert immer wieder Räuber gegeben, die ihr Handwerk mit Vorliebe an Grabbeigaben ausübten. Aus einem Erlass der Domäne Dahlem von 1912 ergeht demnach: »Endtwändet worten 1 Siegelring, 4 Ahnenbildter (Erbstükke), 3 Töpfe bleifreie Theaterschmincke in rodt, blau, weiß. Delinquenten bei Erfassen in Leichner Mausoleum einzumauern.«
Einige Reihen neben der Sängergruft ragt ein unbeschlagener Korpus aus Holz in die Höhe. Auf ihm ein zur rechten Seite geneigter, expressionistisch anmutender Kopf. Eine Skulptur! Die perfekte manière, um die Liebe zu Kunst und Kultur noch in der Postexistenz zu symbolisieren.
Zeit ist um. Bitte Münzen einwerfen.
Die wohlgestalteten Grabmäler der Ehrenmänner vergangener Tage treffen exakt meine Vorstellungen von ewiger Ruhe. Solch illustre Gesellschaft wäre ein würdiger Begleiter auf der Reise ins Jenseits. Außerdem lässt die Infrastruktur keinen Zweifel daran, dass deutsche Gründlichkeit hier auch nach dem Ableben groß geschrieben wird. Sorgfältig platziert findet man die Gräber in Reih’ und Glied vor: Feld, Platz, Zeile – jedes Grab hat seine Koordinaten. Damit nicht aus Versehen das falsche Grab mit frischen Blumen versorgt wird, stecken ordnungsgemäß am Beet-, pardon, Grabrand, kleine Schildchen mit dem Namen der Verstorbenen. Genau so, wie im Blumenkasten auf dem Balkon die Petersilie vom Schnittlauch unterschieden wird. Ordnung muss sein.
Doch ein letzter Fund versetzt mich schließlich in Erschrecken. Die Nachricht »Ruhezeit abgelaufen. Angehörige bitte melden.« kommt zwischen welken Blumen und moosigen Steinen zum Vorschein. Mit Verlaub, hat die Familie des armen Herrn Wucherpfennig den Groschen da nicht einmal zu oft umgedreht? Konsterniert über solch krämerhafte Attitüde, lasse ich die Gräber hinter mir und mache mich auf – gespannt, was ich von der Zeit bis zum Einzug in meine persönliche Gemüseparzelle erwarten darf.