Rastlose Ruhe, lauter Leben

Verhasste Freunde, geliebte Feinde – mit „Lauter leben!“ gelingt den Autoren Nicolas Wouters und Mikael Ross ein einnehmender Graphic Novel über eine zerstörerische Freundschaft. Von Cecilia Fernandez

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Atemlose Ruhe: Das Cover der Graphic Novel “Lauter leben!”. Illustration: avant-verlag

„Pack deine Stiefel ein, wir hauen ab!“ Nicht mehr steht auf dem gefalteten Blatt Papier, das Thomas vom Boden aufhebt. Scheinwerfer bestrahlen ihn. In der Dunkelheit lehnt Martin – sein Kindheitsfreund, sein bester Freund – an der Fronthaube seines Autos. Er lächelt während Regentropfen auf sein Gesicht prallen. Doch Thomas‘ Augen werden zu dünnen, zornigen Schlitzen. Er verschwindet hinter der Tür. Drinnen fragt seine Freundin verschlafen, wer an der Tür sei. „Niemand, Schatz, niemand“, ruft Thomas ihr zu.

Es ist keine besonders originelle Geschichte, die Nicolas Wouters und Mikael Ross in „Lauter leben!“, ihrem ersten gemeinsamen Graphic Novel, erzählen. Der schüchterne Thomas und der unberechenbare Martin – Freunde, die sich in der Jugend ergänzen, beim Erwachsenwerden verlieren und in der Mitte ihres Lebens wiedertreffen. Thomas ist mittlerweile Familienvater und steht vor den Ruinen seiner Ehe, Martin obdachlos und drogenabhängig.

Zwei Leben, eine Freundschaft

Doch Wouters und Ross stellen in Narration wie in Illustration eine Unruhe her, die eine aufwühlende Spannung erzeugt. Die Erzählung springt immer wieder in der Zeit: in die gemeinsame Kindheit der Protagonisten, ihre Jugend in Brüssel und Berlins Punkszene, ihr zufälliges Treffen als Erwachsene. Die Erlebnisse werden episodenhaft geschildert, als Vignetten zweier Leben, einer Freundschaft.

Ross‘ Illustrationen tuen das Übrige, um der Erzählung ein rastloses Tempo zu verleihen: Mit Unruhiger Linienführung, gewollt ungenauen Farbfüllungen, dunkel grau-blauen Tönen, die sich die Panels mit sattem Rot teilen, gelingt es ihm eindrucksvoll, die Unruhe des Erzählstrangs zu vertiefen.

So entsteht eine bruchstückhafte Geschichte, die jene Art von Lücken lässt, die das Lesen zu einer einnehmenden Erfahrung macht: Wer ist dieser Martin, so loyal wie egoistisch, so ehrlich wie wahnsinnig, der mit seiner dämonischen Ausstrahlung Thomas in den Bann zieht und ihm zum Idol und Götzenbild in einem wird? Er bleibt für den Leser ein Charakter voller Wiedersprüche und Unberechenbarkeit, der sich einfachen Urteilen entzieht.

Atemlose Ruhe

„Lauter leben!“ strotzt vor solchen Widersprüchen und gerade daraus ergibt sich der aufwühlende Rhythmus des Graphic Novels. So kontrastieren die Autoren die handlungsgeladenen Episoden mit Momenten der Ruhe. Der verlassenen Ruhe des Familienhauses, die Thomas unerträglich wird, als seine Frau ihn verlässt. Der Ruhe auch Brüssels im Morgengrauen, als der obdachlose Martin durch die Straßen der Stadt zieht. Der friedlichen Ruhe des Meeres, das in Pastelltönen die letzten Buchseiten von Rand zu Rand ausfüllt. An der Küste ist noch Platz für Kindheitserinnerungen, hier sind die Linien fließend und weich. Es ist diese Mischung aus Atemlosigkeit und Stille, aus technischer Versiertheit und emotionaler Tiefe, die „Lauter leben!“ auszeichnet.

„Lauter leben!“ von Nicolas Wouters und Mikael Ross

Erschienen beim avant-verlag

104 S., 19,95€

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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