Undenkbares Denken

Zu ihrem zehnjährigen Jubiläum erhält die Philologische Bibliothek ein Kunstwerk. Es feiert gedankenloses Schreiben. Beim Besuch war Julian Jestadt erst orientierungslos, dann genervt, jetzt denkt er.

Viele werden sagen: Kann ich auch! Haben sie aber nicht. Foto: Philologische Bibliothek Berlin

Statt der früheren Etagenschilder sind hieroglyphen-ähnliche Chiffren zu sehen. In den Vitrinen stehen ganze Bücher voll abstrakter Zeichen. Eine große Schriftrolle hängt im Untergeschoss mit abertausenden individuellen Zeichenformen. Sie sind das Werk des Künstlers Axel Malik, der schon seit 1989 solche Chiffren schreibt.

Ende der vergangenen Semesterferien wurden sie überall in der Philologischen Bibliothek angebracht – als Geschenk zu ihrem 10. Geburtstag. Die Installation am Ort des Denkens und Schreibens plädiert für gedankenloses Schreiben – und huldigt zugleich unserem Denken.

Schreiben ohne Gedanken als Erlebnis

Schrift ist das Medium unserer Gedanken. Aber was passiert, fragte sich Malik, wenn man die Gedanken beim Schreiben loslässt, einfach nichts denkt? Dann scheint nicht die Hand den Stift zu führen, sondern der Stift die Hand. Der Schreibende bringt alles in die Schrift, nur nicht seine Gedanken. So öffnet sich ein Zeichenraum von schier unvorstellbarer Individualität.

Das Ergebnis? Nicht nur nervige, infantile Kritzeleien! Dahinter steht ein komplexer Schreibprozess, in dem sich der geübte, gedankenlos Schreibende selbst begegnet. In dem Moment des Schreibens ist er nichts, vielleicht nicht mal ein Mensch, und doch alles, jedenfalls er selbst. Er ist frei und kontemplativ. Er gibt sich sich selbst hin, geht in sich auf, verliert die Orientierung und den Weltbezug. Er ist, ohne zu sein. Die Chiffren sind sein Medium. Und jeder, so glaubt Malik, sollte diese Selbsterfahrung des gedankenlosen Schreibens machen.

Eine Huldigung des Denkens

Aber dem sinnsuchenden Bibliotheksbesucher bleibt mehr als die klägliche Kritzelei des ungeübten Selbstversuches. Betrachtend fragt er sich ständig, was man ihm denn mit den Chiffren sagen will? Sagen sie, hör‘ auf zu denken und zu verstehen, weil du nur dann ganz bei dir selbst sein kannst? Oder sind die Chiffren doch ein Plädoyer für mehr Denken, wie ein Negativbeispiel, das dem bologna-gebeutelten Akkord-Denker zuruft: ‚Hör‘ auf zu reproduzieren, denke frei, denke nicht in Formen, sonst schaffst du nichts als Hülsen!‘

Wer weiß das schon, die Chiffren sind ja unlesbar. Das macht erst orientierungslos, dann nervt es. Und letztlich bleibt dem Bibliotheksbesucher nur das Denken. Genau das, was Malik aus der Schrift verbannt. Der Sinnsuchende versucht Sinn in das Unsinnige hineinzubringen. Und auf dem Höhepunkt der ergebnislosen Orgie des Denkens wird ihm bewusst, dass sich genau in seinem Denken über Undenkbares auf absurde Weise die Schönheit des Denkens offenbart – und damit auch die Schönheit der undenkbaren Chiffren. So wird Maliks Werk nicht nur zu einem Appell für gedankenloses Schreiben, sondern auch zu einer provokanten Huldigung des Denkens durch unser Denken am Ort des Denkens, in der Bibliothek.

Jeden Dienstag gegen 18 Uhr nach der Ringvorlesung ‚Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift‘ bietet Malik eine Führung durch die Philologische Bibliothek an.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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