Schlaflose Nächte kurz vor der Abgabe wichtiger Hausarbeiten lassen uns oft als Zombies zurück. Klar, dass da einiges schiefgehen kann. Carla Spangenberg erzählt von ihrem Rennen gegen die Zeit.
22h05: Ein schriller Schrei erschüttert ein Italienisches Restaurant in Berlin Mitte. Eine junge Frau fällt ohnmächtig in ihre Bolognese. Wein ergießt sich über den Tisch. Was sich anhört wie der Anfang eines Krimis, ist das Ende einer langen Geschichte. Das fatale Ende meiner Bachelorabgabe.
15 Stunden zuvor:
7h05: Ich erwache aus einem unruhigen Traum, in dem sich Karl Marx mit Hannah Arendt und Putin unterhielt. Ich glaube, hieraus weitreichende Erkenntnisse zum Thema meiner Bachelorarbeit Entfremdung im flexiblen Kapitalismus ziehen zu können, die ich unbedingt noch verwursten will. Es fehlen ohnehin noch drei Kapitel – von der Formatierung ganz abgesehen. Aber meine Bachelorarbeit muss heute noch zur Post: Der Poststempel zählt als Eingangsdatum für meine Uni, die im entfernten Bayern liegt.
Der Countdown läuft
7h10: In meinem Pyjama, in dem der Schweiß schlafloser Nächte klebt, setze ich mich an den Schreibtisch und mache mich ans Werk. Anfangs euphorisch, zunehmend panisch schreibe ich an meiner Bachelorarbeit herum. Diese gleicht mit jedem Wort, das hinzukommt, einem großen Berg Hackfleisch, von dem man nicht weiß ob es Rind oder Schwein (vermutlich beides) ist, geschweige denn, wozu es verarbeitet werden soll. Trotz Hackfleisch im Kopf ist an Essen nicht zu denken und das Rauchverbot in der Wohnung ist schon lange vergessen – der Weg zum Balkon ist einfach zu weit. Ich ernähre mich also von einer Packung Schokobons und missbrauche den Blumentopf als Aschenbecher.
12h: Karl Marx – DasKapital.pdf (Keine Rückmeldung) verkündet der Adobe Reader. Nagut, dann füge ich die Marx Zitate eben später ein, erstmal um die Logistik kümmern. Ein Copyshop am Kotti hat bis 22h geöffnet – zur gleichen Zeit schließt auch die Post an der Friedrichstraße. Am Telefon rät mir der Copyshop Betreiber, ich solle spätestens um 19h30 bei ihm auftauchen, damit wir noch Zeit zum Binden haben. Also alles easy – die Zeit reicht locker, um meine Arbeit noch vom Kopf auf die Füße zu stellen.
17h30: Ich sollte mich langsam an das Fazit machen. Stattdessen drehe ich immer neue Ideen durch den Fleischwolf und packe sie auf den Hackberg, bis ich meinem Werk komplett entfremdet gegenüberstehe.
Im Pyjama durch Berlin
21h: Ich verlasse das Haus, springe in Schöneberg in ein Taxi und fahre zum Kotti. Im Copyshop hüpfe ich mit meinen Schokobons auf und ab, während der Drucker viel zu langsam läuft und der Mitarbeiter mir erklärt, dass es für eine professionelle Bindung nun zu spät ist.
21h35: Ich nehme das nächste Taxi Richtung Friedrichstraße – wie viel dieser Marx mich heute kostet, will ich gar nicht wissen. Hektisch versuche ich, dem Taxifahrer zu erklären, wie dringlich meine Lage ist. Der interessiert sich allerdings eher für das Thema meiner Arbeit als die Öffnungszeiten der Post. Vorsichtig taste ich mich heran: “Kennst du Karl Marx?” Natürlich kennt er ihn: “Standard: Karl-Marx-Straße, Karl-Marx Allee – soll ich dich dahin fahren?” Bloß nicht! Ich muss zur Post!
21h55: In letzter Minute schlitter ich in das Postamt an der Friedrichstraße – der Poststempel schmatzt, als er auf meinen entfremdeten Fleischberg trifft – geschafft! Nun stehe ich da: an der Friedrichstraße, im Pyjama, mit knurrendem Magen – das Leben als Bachelorette hatte ich mir anders vorgestellt. Hungrig tappe ich in den nächsten Italiener und bestelle Spaghetti Bolognese – endlich wird das Hackfleisch zielführend verarbeitet. Ich öffne mein eigenes Druckexemplar und blättere hindurch. Mein Kapitel über Marx trägt den Titel ZITATE EINFÜGEN!! im folgenden Abschnitt findet sich kein einziges Zitat. Ich schreie.