Heult leiser, Neuberliner*innen!

Zu dreckig, zu laut, zu anonym. Zugezogene werden nicht müde Berlin schlecht zu reden. Dabei wusstet ihr doch, was euch erwartet! Eine Abrechnung von Corinna Segelken

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Bullshit, alles Bullshit, denke ich. Als hättet ihr nicht gewusst was auf euch zukommt. Ich ziehe doch auch nicht in eine Kleinstadt und erwarte an jeder Ecke ein veganes Café und wundere mich, warum der Bus nur einmal die Stunde fährt. Aber zurück zum Anfang. Vor kurzem besuchte ich einen Poetry Slam in Kreuzberg auf dem jede*r zweite Teilnehmer*in die Bühne mit derselben Ansprache betrat: Man sei ja gerade erst nach Berlin gezogen, noch nicht so richtig angekommen und hätte darum das eigene Ringen mit den überwältigenden Gefühlen in einen Text gepackt. Hui, denke ich, muss ja ganz schön schlimm für euch sein, meine Heimatstadt. Aber eigentlich nichts Neues, wenn ich an die Gespräche meiner zugezogenen Kommiliton*innen im ersten Semester zurückdenke. Und in jedem weiteren.

Ist Berlin zu stark, bist du zu schwach

Ganz ehrlich: Hört auf zu heulen. Ihr wusstet worauf ihr euch einlasst. Klar, Veränderungen sind für die meisten Leute schwierig, Umzüge erst recht. Niemand erwartet, dass ihr sofort den BVG-Plan auswendig könnt oder wisst, welche Clubs sozial akzeptabel sind. Doch dieses Rumnörgeln kotzt mich an. “Ach krass, hier sind alle Leute irgendwie genderfluid und – Hilfe! – Menschen nehmen Drogen.” Als hättet ihr noch nie was davon gehört.

Mimimi, Berlin ist…
… zu laut.
Zieht nach Spandau.
… zu anonym.
Wo kann man sonst in Jogginghose und Adiletten einkaufen gehen?
… zu dreckig.
Ja geil, wa?

Gebt nicht der Stadt die Schuld, wenn ihr nicht mit ihr klarkommt. Eine Autorin die im “verflixten siebten Jahr” die Stadt wieder verließ schrieb mal, Berlin sei Kampf. Ja, ist doch geil. Ein bisschen Struggle hier, ein bisschen Weltschmerz da, was wäre das Leben ohne Herausforderungen. Richtig: langweilig. Ist Berlin zu stark, bist du zu schwach.

Ihr seid kein Sonderfall

Dazu noch ein kleiner Insiderhinweis: Niemand in Berlin kommt so richtig damit klar in Berlin zu sein. Glaubt mir. Niemand. Ihr seid kein Sonderfall. Aber das ist euch wahrscheinlich schon aufgefallen, ist ja schließlich alles so anonym hier.

Mimimi, Berlin ist…
… zu voll.
Again: zieht nach Spandau.
… zu beziehungsunfähig.
Wart ihr schon mal in Prenzl’ Berg?
… zu psychisch belastend.
Das ist nicht Berlin, sondern eure Quarterlife Crisis.

Versteht mich nicht falsch: Es ist total okay kein Großstadtmensch zu sein. Weil mich der Umzug in eine dörfliche Gegend wahrscheinlich in eine mittelschwere Lebenskrise stürzen würde, verurteile ich euch nicht dafür, dass es euch in Berlin ähnlich ergeht. Aber bitte hört auf rumzuheulen, weil jemand in den U-Bahnhof gekotzt hat oder der Nachbar euren Namen nicht kennt (wär ja auch schlimm). Ihr seid nicht aus Versehen hierher gezogen. Und es tut mir in meiner Berlinerinnen-Seele weh, wenn ihr die Stadt dafür fertig macht, dass ihr nicht mit ihr zurecht kommt.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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4 Responses

  1. Werner sagt:

    Wie kann man die Bezirke nur so über einen Kamm scheren? Ach Quatsch…. selbst bei den Ortsteilen bin ich penibel… also recht so…. mi mi mi mi…. also heult doch!!! Aber bitte leise ……

    Aber ick würd ja nie nach Spandau ziehen, obwohl ick da jeborn bin…. is eben jwd und ne janz andere Welt…. 🙂

  2. Max sagt:

    Ich wohne jetzt seit bald 5 Jahren in Berlin, komme aber ursprünglich aus Magdeburg. Ich mag Berlin! Dass viele hier keinen Anschluss finden oder sich beschweren, kann ich nicht nachvollziehen. Wer hier wirklich den Wunsch hat anzukommen, der wird das auch schaffen. Klar kostet das Kraft und man muss offen für Neues sein, aber das ist überall anders auch so. Wenn man aber einmal angekommen ist, wird man für seine Mühen mehr belohnt, als irgendwo anders auf dieser Welt!

  3. Annekatrin Vollhardt sagt:

    Super Artikel,genauso denke ich als Urberlinerin!!

  4. SLB sagt:

    Ich lebe schon lange hier und mir tut immer noch sehr vieles bis ins Mark weh und wird es wohl immer tun. Ich pflege zu sagen, dass ich eine Sensibilität wie ein Landei habe 🙂
    Damit irgend etwas verbessert wird – und wenn es auch nur Kleinigkeiten sind, wie ein Lächeln mehr in der U-Bahn, ein Wegwerfen eines herumliegenden Müllstücks oder auch Verständnis für Menschen, die an Missständen ebenfalls leiden -, sind auch sensible Menschen notwendig. Menschen, die sich das Gespür dafür, wie die Welt sein sollte, und das Unbehagen an der Diskrepanz noch nicht abtrainier haben oder abschimpfen ließen.

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