Befreiung der Zeit

Zeit ist nicht einfach nur eine physikalische Größe, sondern auch eine politische Kategorie. Was das bedeutet hat Marlene Keller in einem Vortrag zu postkolonialer Zeittheorie in Erfahrung gebracht.

Uhren sind nicht alternativlos! Foto: Pixaby

Fortschritt kommt mit der Zeit. Das kling für die meisten logisch, aber die indische Historikerin Prathama Banerjee enttarnt diese Idee als Produkt der eurozentrischen Moderne. Die Vorstellung einer linear voranschreitenden Zeit ist eine Art wie Zeit, besonders in der Politik, ausgelegt werden kann – aber nicht muss.

In ihrem Vortrag Zeit und die Grenzen des Politischen: Anti-historische Exkursion aus Südasien lenkt Banerjee die Aufmerksamkeit auf alternative Konzepte von Zeit aus der Geschichte Südasiens. Sie bezeichnet diesen Exkurs als ein „kreatives Spiel mit Zeit und Chronologie“.

Lehre der Leere

Ein Beispiel für das Verständnis von Zeit im außereuropäischen Kontext ist das Konzept der Leerheit – Shunyata – aus der buddhistischen Philosophie. Damit ist gemeint, dass Phänomene, und dazu gehören auch Menschen, nicht aus sich selbst heraus existieren können. Das Selbst, hält Banerjee fest, ist in dieser Tradition immer abhängig von Ursachen und Bedingungen zu denken, in deren Abwesenheit kein „Ich“ mehr übrigbliebe. Dadurch wird Zeit als Zusammensetzung von kleinsten Augenblicken verstanden, und nicht als chronologisch verlaufende Linie.

Ein anderes Verständnis von Sein und Zeit, so Banerjee, bringe auch eine andere Herangehensweise an Politik mit sich. Die buddhistische Idee der Leerheit begrenzt das Politische in seinem Wirken – die menschlichen Möglichkeiten sind durch die Umstände des Daseins eingeschränkt. Dem entgegen steht unser westliches Selbstverständnis der Politik, das auf der Hoffnung beruht, dass wir die Zukunft zum Besseren verändern können.

Kampf um die Zeit

Um den Konflikt zeitlicher Ordnungen zu veranschaulichen, beschreibt Banerjee ein Beispiel aus der Kolonialzeit in Indien. Mit der Kolonialisierung wurde auch den Arbeiter*innen auf den Plantagen das Konzept der Uhrzeit auferlegt. Banerjee spricht von einer „temporalen Politik der Moderne.“ Die Arbeiter*innen waren nun gezwungen, nach zeitlicher Ordnung der Kolonialherren zu arbeiten, die allerdings nicht die Hitze zu gewissen Tageszeiten in Indien berücksichtigten. Die Unterteilung und Einteilung von Zeit, ist genauso wie die Theorie dahinter, immer auch politisch, da sie das Leben grundlegend bestimmt. Deswegen waren im antikolonialen Kampf Mythologien und Philosophien der Zeit von großer Bedeutung

Als Anlass für den Vortrag diente die Berlin Southern Theory Lecture, ein Projekt das die Dezentralisierung und Diversifizierung der theoretischen Debatten in den Sozialwissenschaften zum Ziel hat. Die Wichtigkeit diverser Perspektiven betont Banerjee zum Abschluss, denn nur wenn Austausch über Traditionen hinweg auf Augenhöhe stattfindet, können sich neue Ansätze ergeben und eine politische Theorien entstehen, die die ganze Welt ins Auge fasst.

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