Wie weit darf Gerechtigkeit gehen?

Darf man Gesetze brechen, um Gerechtigkeit zu erlangen? Diese Frage steht im Zentrum des Theaterstücks Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Laura Kübler hat sich das Stück in der Schaubühne angesehen und war seit Corona das erste Mal wieder im Theater.

Schauspieler Renato Schuch spielt Michael Kohlhaas auf seiner Suche nach Gerechtigkeit. Foto: Gianmarco Bresadol. Illustration: Joshua Leibig

Der Saal B der Schaubühne ist bis zum Rand mit Zuschauer*innen gefüllt. Es fühlt sich unwirklich an, in einer so großen Menschenmenge zu sitzen. Die Besucher*innen sind durstig nach Theater und man spürt dieses Verlangen an diesem Abend, kurz bevor Kleists Michael Kohlhaas gezeigt wird. Inszeniert wird das Stück gleich von zwei Regisseur*innen: Simon McBurney und Annabel Arden. 

Doch bevor die Besucher*innen den Saal betreten dürfen, wird kontrolliert: Nur wer neben dem Ticket einen Impfnachweis sowie einen negativen Coronatest vorzeigen kann, bekommt ein kleines Bändchen. Ein wenig Festival-Gefühl kommt auf. Der ausverkaufte Saal, der keine Abstände zwischen den Stühlen vorsieht, löst zunächst zwar ein wenig Unwohlsein aus, doch die FFP2-Masken und die Bändchen geben etwas Sicherheit. Die Aufregung steigt, es kann losgehen. 

Gerechtigkeit als Motiv

Die Geschichte von Kleist dreht sich um den gewissenhaften Rosshändler Michael Kohlhaas, der auf seiner Durchreise nach Dresden unerwartet an einer Ritterburg aufgehalten wird. Er soll einen Passierschein vorlegen, den er jedoch nicht besitzt und in seinen vielen Jahren als Geschäftsmann auch noch nie gebraucht hat. Er einigt sich mit dem Burgherrn darauf, ein Pfand dazulassen, der seine Durchreise gewährleistet. So lässt er zwei seiner besten Pferde und seinen treuen Knecht auf der Burg zurück. Zu seinem Entsetzen sind bei seiner Rückkehr beide Pferde verhungert und sein Knecht vertrieben und misshandelt worden. 

Auf dieses schicksalhafte Erlebnis sollen mehrere Unglücke folgen. Nachdem schließlich auch noch Kohlhaas’ Frau stirbt, gerät der Rosshändler außer sich. Er möchte Gerechtigkeit einfordern für das, was ihm widerfahren ist, doch seine Klagen werden abgelehnt. Nachdem jegliche Versuche, auf rechtlichem Weg Gerechtigkeit zu erlangen, scheitern, beginnt Kohlhaas mit einer Reihe von Anhängern einen Rachefeldzug, fackelt Siedlungen ab und begeht Gräueltaten. 

Ein zeitloses Stück

Heinrich von Kleist schrieb die Novelle im Jahr 1810, doch die Moral der Geschichte ist zeitlos. Schon zu Beginn der Inszenierung wird ein Bogen in das 21. Jahrhundert gespannt, indem auf die Whistleblowerin Chelsea Manning verwiesen wird. Ein Satz aus einem Brief von Kleist wird dazu vorgelesen: „Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist.“ Noch heute müssen Whistleblower*innen damit rechnen, von dem Rechtssystem ihres Landes bestraft zu werden, wenn sie Unternehmensgeheimnisse an die Öffentlichkeit tragen. Auch die Regisseur*innen McBurney und Arden stellen die Frage in den Fokus, ob die Regeln des Staats missachtet werden dürfen, um Gerechtigkeit zu verteidigen. 

Die Modernität des Themas wird in der Inszenierung durch den vielfältigen Einsatz verschiedener Medien unterstrichen. Michael Kohlhaas, gespielt von Renato Schuch, wird von allen Seiten gefilmt. Die sechs Schauspieler*innen halten Handykameras in die Luft, deren Videos simultan an Leinwände projiziert werden. In Großaufnahme ist jeder Gesichtsausdruck genauestens erkennbar. Von der Decke ist eine Kamera direkt auf die Bühne gerichtet; man kann Kohlhaas und seiner Frau beim Schlafen zusehen. Auf Overheadprojektoren werden Fotos von ausgehungerten Pferden gezeigt. 

Rache ist hektisch

Den Schauspieler*innen wird an diesem Abend besonders viel abverlangt. Sie stehen vor und hinter der Kamera, ziehen sich in Windeseile um und stehen allesamt als Erzähler*innen an Rednerpulten. Die vielen Soundeffekte sowie der Medienmix und die sprunghaft wechselnden Erzähler*innenstimmen erzeugen ein Gefühl von Hektik, das das unruhige Innenleben des Pferdehändlers Michael Kohlhaas widerzuspiegeln scheint.

Michael Kohlhaas ist ein politisches Stück und stellt ein Gegenbild zu einem Familiendrama dar. Es geht keinesfalls um individuelle Gefühle oder komplizierte Verstrickungen von Figuren, sondern das Zentrum des Stücks bildet stets das Verlangen nach Gerechtigkeit in einer ungerechten Ordnung. Hierbei entwickelt sich ein einst gesitteter Mann zu einem getriebenen Mörder. Obwohl dem Stück eine Ernsthaftigkeit innewohnt, schafft es das Ensemble, humorvolle Szenen mit einzubauen, beispielsweise als die Schauspieler*innen mit Perücke, Sonnenbrillen und Krawatte auf der Bühne stehen und Anhänger*innen des Kurfürsten darstellen. 

Ein anregender Theaterabend

Schade ist, dass neben fünf Männern nur eine Frau, nämlich Genija Rykova, als Frau des Kohlhaas’ mitspielt. Auch wenn das Stück hauptsächliche männliche Protagonisten vorsieht, wäre es denkbar gewesen, die traditionellen Geschlechterrollen zu durchbrechen. So geht Rykova zwischen ihren männlichen Kollegen teilweise unter. 

Michael Kohlhaas thematisiert ein stets präsentes Problem: Das Rechtssystem schützt nicht immer diejenigen, die für Gerechtigkeit einstehen. Nach Ende des Stücks bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Wie weit sollte man für Gerechtigkeit gehen? Werden Menschen straffällig, wenn sie unfairen Verhältnissen ausgesetzt sind? Kann man im Kampf für Gerechtigkeit blind werden gegenüber dem, was wirklich gerecht ist?

Reihe für Reihe verlassen die Zuschauer*innen murmelnd den Saal, die Reihen werden nacheinander aufgerufen. Es ist sicher auch für manch andere Anwesende der erste Theaterbesuch nach knapp zwei Coronajahren, der einen voller neuer Gedanken und Redestoff in der kalten Abendluft vor der Schaubühne zurücklässt.


Das Theaterstück Michael Kohlhaas feierte seine Premiere am 1. Juli 2021 in der Schaubühne. In nächster Zeit steht das Stück nicht auf dem Spielplan, für neun Euro können sich Studierende jedoch für alle verfügbaren Vorstellungen Tickets kaufen.

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