Sehsüchte-Festival: Keine leichte Kost

Zwei Jahre lang musste das Sehsüchte-Filmfestival wegen Corona ausfallen, im April fand es zum ersten Mal wieder live in der Filmhochschule Babelsberg statt. Zwei Filme sind besonders hervorgestochen.

Der Eingang zum Sehsüchte-Festival. Foto: Larissa Sophie Römer

Seinen Ursprung hat das Festival als FDJ-Studententage im Jahr 1972. 1995 wurde es von Studierenden zu Sehsüchte umbenannt und ging dieses Jahr in seine 51. Runde. Das Sehsüchte-Festival ist das größte seiner Art in Europa und bietet jungen Filmschaffenden auf der ganzen Welt eine Plattform, um ihre Arbeiten zu präsentieren. Vom 20. bis zum 24. April dieses Jahres entstand rund um den Campus der Filmuniversität und das Studiogelände Babelsberg ein Ort zum Netzwerken zwischen Filmstudierenden, Vertreter*innen der Filmindustrie, Sponsor*innen, Künstler*innen und Akademiker*innen.

Nähe und Distanz

Das Organisationsteam wird jedes Jahr aus Studierenden der Studiengänge Medienwissenschaft und digitale Medienkultur zusammengestellt. Dieses Jahr zum ersten Mal dabei: Studentin Rebecca. Sie erzählt uns, dass die Organisation anstrengend war, sich aber gelohnt hat. Der größte Vorteil in ihren Augen: das Netzwerken mit Studierenden aus anderen Jahr- und Studiengängen sowie Filmemacher*innen. Im Hauptprogramm hat Rebecca Filme in den Sektionen Spielfilm lang und kurz, Dokumentationen lang und kurz und Animation ausgewählt und verschiedene Programmblöcke erstellt. Beim Festival selbst hat sie moderiert und Interviews mit den Filmemacher*innen geführt.

Dabei stellte die Pandemie nicht nur die Organisator*innen vor Herausforderungen, sondern spiegelte sich auch inhaltlich wider. Das Festival hebt hervor: „Mit Blick auf unser diesjähriges Filmprogramm lässt sich feststellen, dass die in den vergangen zwei Jahren allgegenwärtige Frage nach Nähe und Distanz einen Einfluss auf den kreativen Schaffensprozess des Filmemachens genommen hat – sowohl in Bezug auf Produktionsmaßnahmen als auch im Storytelling. Während sich manche Einrichtungen thematisch mit der Isolation befassen, zeigen andere gezielt menschliche Nähe.“

Nicht nur Party im Kopf

Sehsüchte feiert kulturelle Diversität und das Kino von heute und morgen. Von dem Klischee, Student*innen hätten „nur Party im Kopf“, möchten sich die Organisator*innen jedoch distanzieren. Denn das Programm des viertägigen Festivals ist vielfältig und beinhaltet neben Screenings von überwiegend gesellschaftspolitischen Filmen auch Workshops und Talks zu verschiedenen Themen. Dieses Jahr reicht das Workshopangebot von Speed Dating for Filmmakers über Film Funding und Queer Cinema bis hin zu Audiobüchern, Dramaturgie und dem Bezug von Filmindustrie und Kunstschulen. Außerdem als sportlicher Ausgleich während der Filmpause: eine kostenlose Fahrradtour durch Potsdam oder die Möglichkeit zum Zumbatanzen. Doch das bunte Rahmenprogramm ist nur eine Ergänzung; der Fokus liegt auf den Filmen.

„Enough with all that“

Am letzten Tag des Festivals werden mit der Filmreihe Enough with all that Kurzfilme gezeigt, welche die ganze Bandbreite an Gewalt und Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft dokumentieren. Ungeschönt und ehrlich thematisieren die Filme verschiedene Missstände – von Rassismus in Frankreich, Polizeigewalt in Belarus, kapitalistischer Ausbeutung von Fahrradkurieren auf Brasiliens Straßen und Pflegekräften in Deutschland bis hin zu Sexismus und toxischer Maskulinität. Keine leichte Kost für einen Sonntagmittag und auch keine Möglichkeit zur Realitätsflucht aus dem Alltag, der nach wie vor von Russlands Angriffskrieg, der Klimakrise und der noch immer andauernden Corona-Pandemie geprägt ist.

Genauso uncomfortable geht es am Nachmittag weiter mit den beiden Gewinnerfilmen aus den Kategorien Bester Kurzfilm und Beste Dokumentation. Als Bester Kurzfilm wird Duo Li (englisch: Lili alone) von der chinesischen Regisseurin Jing Zou ausgezeichnet. In dem Film geht es um die junge Mutter Lili, die in die Stadt zieht, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Dort gerät sie an eine Leihmutterschaftsagentur und entschließt sich, ein Baby auszutragen. Ihrer Familie erzählt sie nichts davon. Gefangen in einem bedrückenden Gebäudekomplex vergehen Wochen und Monate, der Alltag ist trist und eintönig. Nicht alle Frauen überleben die Schwangerschaft. Als sich Lilis Auftraggeber wenige Monate nach der Befruchtung trennen, muss sie die Schwangerschaft abbrechen. Der Kurzfilm zeigt die kapitalistische Ausbeutung im Endstadium: Frauen, die gezwungen sind, ihren Körper zu verkaufen und ihr Leben zu riskieren, um der Armut zu entkommen.

Immerhin ein Film kann all dieser Gewalt etwas Liebe entgegensetzen: Rogori Ikho Othaki (englisch: How the room felt) von der georgischen Regisseurin Ketevan Kapanadze wird als Beste Dokumentation ausgezeichnet. Der Film zeigt das Leben von lesbischen und nicht binären Menschen in der georgischen Stadt Kutaissi. Meist zerstritten und oft von ihren Eltern verstoßen finden die Protagonist*innen in ihrer Fußballmannschaft eine neue Familie. Sie schaffen sich einen Zufluchtsort aus der bedrohlichen Außenwelt, in der Rechtsextremist*innen durch die Straßen ziehen und das Leben von LGBTIQ-Aktivist*innen bedrohen. Der Film ist eine Nahaufnahme davon, wie die Protagonist*innen diskutieren und weinen, aber auch tanzen, lachen und feiern. Während die Außenwelt immer bedrohlicher wird, finden die Freund*innen in ihrer Fußballmannschaft Liebe und Zusammenhalt. Durch diesen Kontrast schafft es der Film, trotz all der Gefahr, des Hasses und der Gewalt, die ständig im Hintergrund lauern, Wärme auszustrahlen.

See you in 2023

Das Sehsüchte-Festival bietet ein volles Programm – eine Teilnahme dürfte sich für jede*n Filminteressent*in lohnen. Es ist als Besucher*in definitiv empfehlenswert, viel Zeit für die 52. Edition im nächsten Jahr einzuplanen. Und wer selbst einen Film einreichen möchte, sollte die Website im Auge behalten. Ab November beginnt die Bewerbungsphase für 2023.

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