Napoleon: verzerrt und entzaubert

Nach dem Erfolg House of Gucci bringt der britische Regisseur Ridley Scott nun das Leben Napoleon Bonapartes auf die Leinwand. Ob das Biopic mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle gelungen ist, verrät Constanze Baumann in einer neuen Folge von Kulturreif.

Mit vermeidbaren Fauxpas: Der neue Napoleonfilm stößt auf viel Kritik. Illustration: Constanze Baumann

Paris, am Morgen des 16. Oktobers 1793. Eine riesige Menschenmenge hat sich auf dem Revolutionsplatz, dem heutigen Place de la Concorde, versammelt. Die verängstigte und leichenfahle Marie-Antoinette wird zum Schafott gebracht; kurz darauf liegt ihr engelsgleiches Haupt mit den wallenden, weißen Haaren unter der Guillotine; schon präsentiert der Henker ihren abgetrennten Kopf dem triumphierenden Publikum. Die Kamera schwenkt auf einen jungen Mann mit zielgeradem Blick, der sich unter die Zuschauenden gemischt hat: den jungen Artillerieoffizier Napoleon. Mit dieser Szene, die den Anfang eines neuen Zeitalters symbolisiert, beginnt Scotts Historiendrama. Es ist die erste von vielen historischen Ungenauigkeiten. Napoleon befand sich zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht in Paris, sondern in Toulon. Doch daran scheint sich Scott nicht zu stören. 

Im Laufe des knapp dreistündigen Films setzt sich die Fehlerkette dann kontinuierlich fort: Bei der Schlacht bei den Pyramiden werden etwa für ein paar atemberaubende Takes die Pyramiden von Gizeh bombardiert. Dabei fand das Gefecht gar nicht in deren Nähe statt. Selbst Napoleons Geburtsdatum wird im Film falsch wiedergegeben. Klar: Regisseur*innen verändern oft historische Sachverhalte; schließlich sollen ihre Spielfilme nicht zu langatmigen, trockenen Dokus verkommen. Bei aller Inszenierung sollte aber wenigstens die historische Basis verlässlich wiedergegeben werden.

Dass es Scott mit der historischen Genauigkeit nicht allzu ernst nimmt, wird auch in einem Interview mit der Zeitschrift The New Yorker deutlich. Auf eine Frage nach etwaigen fehlerhaften geschichtlichen Darstellungen, antwortete er in gleichsam lockerer Manier: „Get a life!“.

Der Film schafft es nicht, das Publikum mitzureißen

Gut, über kleine Geschichtspatzer lässt sich eventuell hinweg sehen, sofern die Erzählung interessanter und die Wirkung stärker wird. Immerhin kann ein Spielfilm sowieso nie historisch korrekt sein. Allerdings entwickelt Napoleon kaum emotionale Tiefe; die Protagonist*innen bleiben eindimensional. Vielleicht ist genau das der springende Punkt: Scott presst zu viel Stoff in zu wenig Zeit. Napoleons gesamte militärische Karriere – angefangen bei der Belagerung von Toulon bis zu seiner Verbannung auf St. Helena – bietet einfach zu viel Stoff, um in 158 Minuten erzählt werden zu können. So bleiben die Nebenhandlungen und Charaktere unterentwickelt und fragmenthaft. Nicht umsonst beschäftigen sich alle bisherigen Napoleon-Filme immer nur mit einem Ausschnitt aus dem Leben des Imperators. Scotts Versuch, einen Gesamtüberblick zu liefern, ist schlicht zu ambitioniert.

Unvollständige Darstellung

Und hier liegt schon das nächste Problem: Der Film erweckt zwar den Eindruck, eine komplette chronologische Darstellung von Napoleons Biografie zu sein, geht aber zwangsläufig selektiv vor und ist dadurch lückenhaft. Wichtige Ereignisse, wie die Völkerschlacht bei Leipzig oder die Schlacht bei Jena und Auerstedt werden zum Beispiel – warum auch immer – nicht gezeigt. Ebenso wird Napoleon den Zuschauenden sehr unvollständig präsentiert. Er wird in seiner Rolle als grausamer Eroberer gezeigt, der maßlos über Europa hinweg fegte und für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich war. Der Film porträtiert ihn darüber hinaus als komplexbehafteten Kauz, der vollkommen abhängig von der Liebe seiner ersten Frau Joséphine war. Wo aber ist Napoleon, der Reformer, der den Code Napoleón einführte? Wo der charismatische Anführer, der ganze Menschenmengen elektrisierte und Goethe und Berlioz tief beeindruckt hinterließ? Die Figur Napoleons ist einfach zu komplex, um sich ihr in unter drei Stunden ansatzweise nähern zu können.

Trotzdem muss man Scott eines lassen: Er hat es geschafft, den großen französischen Nationalhelden zu entheroisieren, indem er ihn als grausamen Kriegsführer porträtiert, und ihn zu entmythisieren, indem er seine private, schwache Seite in den Vordergrund rückt. Trotz dieser ambivalenten Darstellung schafft es Napoleon jedoch nicht, ein ausgewogenes Bild des historischen Napoleons zu zeichnen.

Autor*in

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.