Hilft Weltflucht gegen Weltschmerz?

Sich einmal in die eigene Hobbithöhle zurückziehen und vom Rest der Welt abkapseln. Keine schlimmen Nachrichten mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber tut das wirklich so gut? Matthis Borda macht das Selbstexperiment: Ein Monat Ignoranz.

Illustration: Lena Stein.

Am 08. Oktober verlasse ich mit guter Laune meine Wohnung. Seit acht Tagen habe ich keine Nachrichten gelesen oder geschaut, weder auf Social Media noch auf den Nachrichtenportalen im Internet. Ich habe den sechsten Band der Fantasy-Reihe Das Rad der Zeit von Robert Jordan in meinem Rucksack und bin auf dem Weg zu meinen Freund*innen, um mit ihnen Dungeons and Dragons zu spielen. Anders gesagt: Ich plane, der realen Welt nicht nur mit einem Buch zu entfliehen, sondern auch gemeinsam mit anderen, die erfundene Charaktere spielen, für mehrere Stunden in eine Welt einzutauchen, die ich erfunden habe. Mehr Weltflucht geht nicht.

Als ich in die Ringbahn steige, begegne ich durch Zufall einem der Freund*innen, mit denen ich verabredet bin. Er erzählt mir, dass er erst überlegt habe, nicht zu kommen, weil es ihm nicht so gut gehe. Auf meine Nachfrage hin berichtet er mir von zwei seiner in Israel lebenden Freundinnen und dass er sich natürlich Sorgen um sie macht  – nach dem, was gestern passiert ist.

Und da reißen zum ersten Mal meine Bemühungen ein, den schlimmen Dingen der Welt zu entfliehen. Jetzt möchte ich für meinen Freund da sein und frage, was denn passiert sei. Am Tag zuvor, am 07. Oktober 2023, hatte die islamistische Terrororganisation Hamas einen großen Raketenangriff auf Israel verübt. Viele Zivilist*innen sind dabei getötet oder entführt worden. Die beiden Freundinnen zum Glück nicht, aber es hätte passieren können.

Das Experiment

Ich habe dieses Selbstexperiment begonnen, um herauszufinden, was all die schlimmen Nachrichten, die mich täglich erreichen, in mir anrichten. Ich wollte wissen, ob es mir ohne den sogenannten Weltschmerz wirklich besser geht. Eskapismus bedeutet die Flucht vor der realen Welt und der Auseinandersetzung mit dieser in eine Scheinwelt oder eine imaginierte bessere Welt. Um der Bezeichnung gerecht zu werden, wollte ich mich auch in etwas hinein flüchten. Verschiedene Fantasy-Welten waren da genau das Richtige. Schließlich sieht ein Großteil der Fans des Genres, ähnlich wie dessen Urvater Tolkien, Eskapismus nicht nur als Effekt dieser Werke, sondern auch als etwas Erstrebenswertes an. Einen Monat keine Nachrichten und eine Flucht in erfundene Welten. Das war dann doch weniger einfach, als ich es mir vorgestellt hatte.

Nachrichten zu umgehen, ist schwieriger als gedacht. Instagram konnte ich, das habe ich schnell gemerkt, gar nicht mehr öffnen. Selbst nachdem ich der Tagesschau und anderen Nachrichten-Profilen entfolgt war, wurden mir ständig Meldungen vorgeschlagen oder in Stories geteilt. In der U-Bahn habe ich mich tief hinter meinem 1178 Seiten starken Schmöker vergraben, um nicht versehentlich aufs Berliner Fenster zu schielen. Das alles war noch machbar, anders als Gespräche in meinem Umfeld über Nachrichten zu vermeiden. Nach der ersten FURIOS-Sitzung im Semester sitze ich mit Komiliton*innen aus der Redaktion in einer Bar, und sie kommen auf den Nahost-Konflikt zu sprechen. In mir kommt Unwohlsein auf, denn ich weiß, das Thema ist heikel. Es gibt hier mehrere Seiten mit Argumenten, die ich nicht kenne. Deswegen sage ich den Satz, den ich im Moment immer häufiger sage: „Ich bin nicht ausreichend informiert, um bei diesem Thema mitreden zu können, geschweige denn eine Meinung zu haben.” Ich hätte sie auch darum bitten können, über etwas anderes zu reden. Aber das ist mir unangenehm. Ich möchte nicht als eine Person wahrgenommen werden, die die Augen vor allem Schlechten verschließt. Aber warum eigentlich nicht, wenn es mir gut tut?

‘Leichen’ vor der Mensa

Der Oktober neigt sich dem Ende zu, der Nahost-Konflikt und seine Besprechung und Polarisierung nicht. Als wäre es ein Gerücht, höre ich, wie Greta Thunberg sich auf die Seite Palästinas schlägt und viele Fridays For Future-Mitglieder das kritisieren. An der FU finden ebenfalls Demos statt. Vor der Mensa legen sich Protestierende, als seien sie Leichen, auf den Boden. Zwei weitere halten ein Schild hoch, das ich nicht lese. Ich weiß nicht, auf welcher Seite sie stehen – ob sie überhaupt auf einer Seite stehen. Ich gehe an ihnen vorbei zum Mittagessen. Das fühlt sich scheiße an. Als lägen dort echte Leichen, und ich denke nur an mich. Und es gibt echte Leichen, viel zu viele, und die ignoriere ich auch in gewisser Weise.

Ich kann diesen Gedanken nicht mehr entkommen. Nicht einmal mit meinem Buch. Eine Gruppe Magier, die als einzige nicht geschworen haben, ihre Kräfte nicht als Waffe zu verwenden, metzeln in einer Schlacht die feindlichen Menschen dermaßen brutal ab, dass alle Beobachter*innen in Schockstarre fallen oder sich übergeben. Die absichtlich nüchterne Beschreibung des Autors entsetzt und beeindruckt mich. Ich kann nicht anders, als an die ‘Leichen’ vor der Mensa zu denken – und an den Krieg.

November

Der erste November ist da. Mein Kalender ist voll, es bleibt keine Zeit, meine Wissenslücken zu füllen. Und ich frage mich, ob ich mein Experiment noch weiterführen soll. Es gab viele Momente, in denen es mir sehr gut ging. Momente, die ich mit meinen Freund*innen oder meinen Hobbys verbracht habe. Aber diese Momente hätte ich auch ohne den Verzicht auf Nachrichten so erlebt. Stattdessen habe ich nun nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern es fällt mir auch schwer, die einzelnen, ungewollt aufgenommenen Nachrichtenschnipsel nicht ständig zu durchdenken. Es fühlt sich falsch an, bewusst wegzuschauen. Und was verschafft mir überhaupt diese Freiheit? Es ist ein Privileg, dass ich mich damit nicht beschäftigen muss – niemand in meiner Familie ist betroffen. Ich muss mich nicht täglich informieren, diese Wahl haben andere nicht.

Ich weiß, dass ich dafür nichts kann und es niemandem hilft, wenn ich wegen schlechter Nachrichten in ein tiefes Loch falle. Dennoch habe ich einen Drang, mich wieder mit der Nachrichtenlage auseinanderzusetzen. Mein Uropa war ein Nazi. Mehr weiß ich nicht über ihn, ich kenne ihn nur von einem einzigen Foto. Wenn ich daran denke, kommt in mir der Wunsch hoch, mich jeglichem Antisemitismus oder Rassismus entgegenzustellen. Ich muss dem ja nicht mein ganzes Leben widmen, aber wenn ich in unserer Gesellschaft etwas bewirken möchte, wie kann ich das tun, wenn ich meine Augen vor allem Schrecklichen verschließe?

Ich beschließe, wieder Nachrichten zu lesen. Und ich bin schockiert. Der Antisemitismus, der in Deutschland ansteigt, die Rechten, die diesen Anstieg auf Muslime*Muslima schieben, AfD-Umfragewerte und Bilder des Leids im Gazastreifen ziehen mich runter. Doch ich sehe auch meine Freund*innen wieder und kann dann abschalten. Ich lese mein Buch zu Ende und fange ein neues an. Blutbuch von Kim de l’Horizon.
Über die vergangenen Wochen hat Eskapismus für mich in der Summe nicht funktioniert. Ich glaube, es ist wichtig, sich nicht von der Flut an Nachrichten erschlagen zu lassen, sondern Möglichkeiten zu finden, wie man zwischenzeitlich eskapieren kann. Für mich bedeutet das, mit meinen Freund*innen zu lachen, gute Bücher zu lesen und ja, auch in erfundene Welten zu fliehen. Wenn mich dadurch jemand für egoistisch hält, dann ist das so. Aber ich brauche diese Pause. Einfach, um dann wieder die Kraft zu haben, mich der grausamen echten Welt zu stellen.

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