Angst vor nackten Tatsachen

Die Liebespaarbank am U-Bahnhof Dahlem-Dorf wirkt auf viele Fahrgäste verstörend. Ein trauriges Zeugnis von Intoleranz und sexueller Prüderie, findet Francis Laugstien.

Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

Ein nackter Mann wartet jeden Tag mit mir auf die U-Bahn. Als menschliche Sitzbank bei der BVG steht er am Bahnhof Dahlem-Dorf erschöpften Fahrgästen zur Verfügung. Eigentlich eine gute Idee, finde ich. Leider sehen das viele meiner Mitpassagiere anders. „Der arme Mann ist doch nur aus Holz“, versuche ich ihnen zu erklären oder: „Mein Gott, noch nie einen 40cm-*** gesehen?!“ In solchen Momenten werde ich, genau wie er, schief angeguckt und für verrückt erklärt. In solchen Momenten sind wir Outlaws, von der Gesellschaft ausgegrenzt.

Warum ich den Holzhippie mag? Weil ihn sonst keiner mag: „Wollen wir uns hinsetzen?“ – „Oh Gott, ein riesiger Holz***!“ Kinder sind besonders lustig: „Iiiieh! Justin hat den fetten *** angefasst!“ Oder Jugendliche: „Boa ey, was für ein ***.“

Interessant, was so eine „Armlehne“ für Assoziationen weckt. Als könne man davon Geschlechtskrankheiten oder, noch schlimmer, Kinder kriegen. Ist schon klar: die Siebziger sind vorbei. Keiner möchte heute noch einen auf dem U-Bahnhof gezeugten Pinocchio zum Sohn haben. So steht der Nackte meist allein da und ignoriert höflich die anzüglichen Bemerkungen. Er hat zu viel gesehen, um sich noch aufzuregen.

Nachdem die Redaktion es lustig fand, mich über ihn einen Artikel schreiben zu lassen, habe ich als investigativer Journalist umgehend die Meinung des „kleinen Mannes auf dem Bahnsteig“ eingeholt. Meine erste Interviewpartnerin war eine 19-jährige Jura-Studentin: „Können Sie ein Foto von mir machen, dann gibt’s Bilder von mir im Internet.“ Mein zweiter Versuch sollte auch mein letzter sein: „Haben Sie eigentlich kein Privatleben?“, erkundigte sich ein älterer Herr im Anzug. Ich verzog mich nach Hause.

Zugegeben: meine Recherche hätte besser laufen können. Trotzdem glaube ich den Grund für die Verachtung des Holzmannes erkannt zu haben: Neid. Gleich zwei nackte Holzfrauen, links und rechts, verschönern ihm seine Arbeit als Wartebank. Im Gegensatz zu seiner riesigen Armlehne scheinen ihre prallen Kopfpolster für die Wartenden kein größeres Problem zu sein. Da legt man sein müdes Haupt gerne mal drauf. Um aber keinen meiner Mitfahrenden in ein falsches Licht zu rücken: Mehr als harmloses Schmusen habe ich noch nicht gesehen. Wer unbedingt will, kann aber gerne abends weiterrecherchieren.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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