American Honey ist ein Film über Heuchelei und Trostlosigkeit. So euphorisch, dass man Lust bekommt, mit den Figuren zu tauschen, findet Leslie Fried.
Wenn ich als Kind ins Kino gegangen bin, war es danach oft, als würde ich eine Welt verlassen und in eine andere zurückkehren. Nur, dass ich diese andere, „normale“ Welt nach einem Besuch im Kino plötzlich anders wahrnahm. Doch je älter ich wurde, desto seltener passierte es, dass ein Film mich auf diese Art fesselte und veränderte. Als ich mir „American Honey“ ansah, fühlte ich mich wieder so.
Scheinheilige Christen
In dem Roadmovie der britischen Regisseurin Andrea Arnolds schließt sich die 18-jährige Star, gespielt von Sasha Lane, einer Gruppe junger Hausierender an. Gemeinsam touren sie in einem Van durch die USA und verkaufen Magazin-Abos an brave Amerikaner. Passenderweise ist ein Hauptthema des Films Heuchelei unter dem Deckmantel der Religion: Sei es die Fahrerin mit religiösem Autosticker, die Star mit ihren zwei Kindern am Straßenrand stehenlässt, die „gute Christin“, die sie und Jake (Shia La Beouf) beschuldigt, vom Teufel besessen zu sein, oder die ältere Frau, die zwar fröhlich Kirchenlieder singt, aber leider keine Zeit hat, sich Jakes Geschichte über Menschen in Armut anzuhören. Stars Kommentar dazu? „God can fuck himself.“ Ihr Witz und ihre Liebe für die Welt und die sie bevölkernden Wesen sind mitreißend und berührend und stehen im Kontrast zu der Ablehnung, die sie während ihrer Verkaufstouren erlebt. Immer wieder rettet sie Insekten oder nimmt Anteil an deren Schicksal. Zum Beispiel an dem des Wurms, der in einer Flasche Schnaps sein Leben lassen musste, um der Person, die den letzten Schluck trinkt, Glück zu bringen. Indem der Film auf diese Weise ihre Empathie zeigt, lässt er Star die Nächstenliebe vollziehen, die die scheinheiligen Christen nur vortäuschen.
Selbstzerstörerisch und voller Hoffnung
Den Darstellenden wurde von der Regisseurin viel Freiraum gewährt. Besonders während der Gespräche im Van hat das gesamte Team mit Improvisation gearbeitet. So wirkt das Zwischenmenschliche sehr natürlich und es ist deutlich spürbar, dass auch hinter der Kamera auf menschlicher Ebene viel passiert ist. Das Format, in dem der Film gedreht wurde, begrenzt die Leinwandfläche auf eine annähernd quadratische Fläche statt auf ein Breitbild. Dadurch hat man mehr Mensch auf weniger Fläche zum Angucken. Das hat tatsächlich Auswirkungen auf die Intensität der Szenen: Die Konzentration bleibt bei den Personen, man lässt den Blick weniger schweifen. Körperteile, Mimik und Gestik drängen sich fast auf. Genau wie die wummernden Bässe des Soundtracks, der überwiegend aus Hip-Hop-Titeln besteht – schon der Trailer fühlt sich an wie eine große Party.
„American Honey“ ist ein Film für alle, die mal wieder Lust haben, sich inspirieren und daran erinnern zu lassen, dass Konsum und Karriere nicht die bestimmenden Faktoren eines lebenswerten Lebens sind. Aber vor allem ist es ein Film über die USA, der deren Gegensätze und die damit verbundene Heuchelei anprangert. Zwischen den extrem Reichen und den extrem Armen reicht die christliche Nächstenliebe nur bis zum eigenen, mit Metallspitzen besetzten Gartentor. Und irgendwo dazwischen touren die „normalen“ Menschen auf der Suche nach einem guten Leben und guter Liebe. Dafür kämpfen die „American Honeys“, teilweise verzweifelt und selbstzerstörerisch, aber auch voller Hoffnung. Und daher kommt wahrscheinlich die fast kindliche Energie und Freude, mit der ich das Kino verlassen habe: Der Film ermöglicht das Eintauchen in eine ungerechte, teilweise trostlose, aber vor allem aufregende Welt. Diejenigen, die in ihr leben, befinden sich oft in scheinbar unerträglichen Situationen. Und dennoch würde man gerne mal mit ihnen tauschen.