Ein bisschen Zwang muss sein

Selbstbestimmtes Studium statt Anwesenheitspflicht? Eine Ausrede, um nichts an der strukturellen Überlastung der Unis ändern zu müssen, findet Anatol Stefanowitsch. Ein Gespräch mit Clara Nack.

Anatol Stefanowitsch ist Professor am Institut für Englische Philologie. Foto: Bernd Wannenmacher/FU Berlin

Anatol Stefanowitsch ist Professor am Institut für Englische Philologie. Foto: Bernd Wannenmacher/FU Berlin

FURIOS: Herr Stefanowitsch, Sie haben auf Twitter vor kurzem „aus dem Nähkästchen“ erzählt, es sei verlockend, Anwesenheitspflichten schwach oder gar nicht durchzusetzen, “weil auf diese Weise Studierende wegbleiben, um die man sich sonst intensiver kümmern müsste“. Was meinen Sie damit?

Stefanowitsch: Gerade in den Geisteswissenschaften haben wir die hohe Prüfungslast nach der Bologna-Reform immer weiter zurückgefahren und stattdessen Anwesenheitspflichten eingeführt. Jetzt haben wir das Problem, dass in Veranstaltungen wieder vermehrt gegen diese Anwesenheitspflicht vorgegangen wird. Es bleiben Pflichtveranstaltungen übrig, in denen weder die Anwesenheit noch der Lernfortschritt dokumentiert wird und trotzdem steht die Veranstaltung später auf dem Transkript.

Inwiefern wird gegen die Anwesenheitspflicht „vermehrt vorgegangen“?

Teilweise von Kolleg*innen, welche die Anwesenheit sehr locker kontrollieren. Dann gibt es noch das viel verinnerlichte Motto, die Studierenden seien erwachsen und müssten es selbst wissen. Kontrolliere ich die Anwesenheit nicht oder verzichte auf Abgabefristen, reduziere ich mein Tagesgeschäft an Arbeit erheblich, da Studierende wegbleiben, denen die Universitätskultur unter anderem von Zuhause aus fremd ist und die sonst mehr Anleitung bräuchten. Ich glaube, es gibt nichts, was das Leben mehr zum Positiven verändern kann, als Bildung. Wenn ich die Studierenden dazu zwischendurch zu ihrem Glück zwingen muss, dann ist das so. Ich achte zum Beispiel darauf, ob einige Gesichter wiederholt fehlen und spreche sie dann auch darauf an, um ihnen zu zeigen, dass ich es wahrnehme, wenn sie abwesend sind.

Wo sehen Sie die Ursache dieser Problematik?

Die Ursachen liegen darin, dass auf die strukturelle Überforderung des Systems reagiert wird, indem man die Inanspruchnahme der Angebote freistellt. Man geht dann davon aus, dass ein Teil der Leute wegbleibt und die strukturelle Überlastung nicht sichtbar wird. Das ist vor allem ein Problem der großen Universitäten. In kleineren Städten ist natürlich auch weniger zu tun neben der Uni. Weniger Dinge, die ablenken oder Spaß machen und dadurch ist es vielleicht leichter, sich dort zu konzentrieren.

Nun könnte man argumentieren: Wer nicht erscheint, interessiert sich nicht genug für das Thema und wäre so keine Bereicherung im Seminar. Aber was ist, wenn Studierende aufgrund einer schwierigen Lebenssituation nicht an Seminarsitzungen teilnehmen können?

Ich habe alles Verständnis für Leute, die in schwierigen privaten Situationen sind und studieren wollen. Nur kann die Antwort darauf nicht sein, die Anwesenheitspflicht abzuschaffen. Die Leute kommen dann nicht, werden auch ihr Studium häufig nicht erfolgreich abschließen und in diesen Lebenssituationen stecken bleiben. Es macht auch niemand eine Ausbildung im Gerüstbau und erklärt, er*sie könne dabei aber nicht anwesend sein. Bei zukünftigen Lehrkräften wollen wir das plötzlich zulassen. Es ist mir völlig schleierhaft, wie die Idee entstehen konnte, dass man Studieren kann ohne zu Studieren.

Was müsste sich diesbezüglich ändern?

Man müsste sich vermehrt Gedanken um diejenigen machen, denen ihre Lebenssituation das Studium auf eine Art erschwert. Das bedeutet zum Beispiel eine vernünftige Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen. Die FU hält sich für eine familienfreundliche Universität, da muss einfach stundenweise Kinderbetreuung vorhanden sein. Das heißt auch, bei der Lehrplanung darauf zu achten, dass es sich auch vernünftig in Teilzeit studieren lässt. Für Studierende, die Teilzeit arbeiten, sollte es eine gute Mischung von Veranstaltungen geben, die vormittags und nachmittags gelegen sind.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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