Widerhall statt Widerspruch

Soziale Medien sind gefährlich und führen zu Gewalt, so das gängige Narrativ. Warum die Erzählung an der großen Mehrheit der Nutzer*innen vorbeigeht und selbst Filterblasen eine Chance sein können. 

Wir sind gefangen in der Filterblase – online und offline. Illustration: siebenpunktillustration ©

Wir suchen nach Gemeinschaft, soziale Medien geben sie uns – in der Pandemie stärker als je zuvor. Ob vegane Rezepte oder Nerdwissen über Game of Thrones – jedes noch so nischige Thema, das in den Vorstadt-Freundeskreisen niemand teilt, findet im Internet Sympathisant*innen. Aber auch soziale Bewegungen wie Black Lives Matter formen sich über diese Netzwerke, marginalisierte Minderheiten schließen sich zusammen. So finden sie Gehör und Zuspruch von der Mehrheit. Eine Massenbewegung entsteht.

Beim Zusammenschluss mancher Minderheiten ist die Unterstützung der Masse allerdings nur scheinbar vorhanden. Neuestes Beispiel sind verwirrte Querdenken-Demonstranten*innen, die sich on- wie offline für das ›deutsche Volk‹ halten. Viele Massenmedien werden nicht müde, die Gefahr dieser Echokammern immer wieder zu erwähnen: Soziale Netzwerke filtern Inhalte für uns vor, einerseits durch Algorithmen und andererseits durch unser selbst gewähltes, einschränkendes soziales Umfeld, das unsere Meinung wie ein Echo bestätigt. 

Christoph Neuberger, Kommunikationswissenschaftler an der Freien Universität und dem Weizenbaum-Institut, erklärt, dass dies ein natürliches Phänomen ist: »Wir sind Wesen, die in Gruppen leben, in denen wir passende Freunde auswählen und dort gemeinsame Identitäten bilden. Wir suchen uns nicht die Leute heraus, mit denen wir ständig im Streit leben.« Wenn Menschen sich nur noch monothematisch informierten, die Echokammern dadurch immer stärker würden und sich Weltbilder verzerrten, werde es problematisch, erklärt Neuberger. Häufig seien dafür solche Gruppen anfällig, die ohnehin schon extreme Ansichten vertreten und sich stark auf ihre Gruppenidentität fokussieren. Weil ihnen online selten jemand widerspricht, fühlen sie sich nicht nur im Recht, sondern auch zahlenmäßig überlegen – angeblich unterstützt durch die große schweigende Masse.

»Das kann dazu führen, dass die Leute nicht in ihren Echokammern bleiben, sondern sich etwa in den Kommentarspalten der großen Medien zu Wort melden.«

Christoph Neuberger, Kommunikationswissenschaftler

Die Diskurse verrohen, Grenzen des Sagbaren werden überschritten und inhaltliche Standpunkte unwichtig. Aktuell sind es die Coronaschutzmaßnahmen, vor ein paar Jahren war es der Umgang mit Geflüchteten. 2017 veröffentlichte der Berliner Datenjournalist Michael Kreil deshalb eine Untersuchung zu den Auswirkungen von Echokammern. Mittels Clusteranalyse erstellte er für die Twitter-Accounts von Bundestagsabgeordneten ein räumliches Netz der Parlamentarier*innen untereinander und deren Follower*innen. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass sich AfD-Anhänger*innen in einer eng vernetzten Echokammer bewegen, sich größtenteils einseitig informieren und dazu tendieren, Falschmeldungen zu verbreiten. Die rechtsextremen Anschläge in Halle und Hanau zeigen, wie real die Konsequenzen der Radikalisierung sein können und machen deutlich, welch große Verantwortung die Netzwerkbetreiber*innen tragen, wenn ihre Algorithmen für extremistische Narrative und krude Behauptungen die größte Reichweite generieren.

Man dürfe soziale Medien aber deshalb nicht gleich als Ursache der Radikalisierung sehen – vielmehr visualisierten sie eine Polarisierung. Bei Falschmeldungen handle es sich meist weniger um bewusstes Täuschen, sondern um Tippfehler, Missverständnisse oder aus dem Kontext gerissene Fotos, erklärt Kreil. Richtigstellungen würden mit ihrem nüchternen Charakter deutlich langsamer verbreitet und durchbrächen nur selten die Echokammer. Falls doch, würden sie von den Nutzer*innen nicht ernst genommen:

»Die interessiert nicht, was die Wahrheit ist. Der Filtermechanismus ist viel mehr die eigene Psychologie: Alles, was das eigene Weltbild stützt, wird wahrgenommen, und alles, was dem widerspricht, abgelehnt.«

Michael Kreil, Datenjournalist

Vor allem wer mit dem Internet aufgewachsen ist, nimmt die sozialen Netzwerke als vielseitig wahr – zumindest wesentlich abwechslungsreicher als das Uniseminar oder den Sportverein. Die neueste Forschung unterstützt diesen Eindruck. Im Internet spielen Entfernungen, ob räumlich, kulturell oder politisch, kaum eine Rolle, bestätigt Michael Kreil. »Aus meiner Perspektive bin ich dank der sozialen Medien mit vielen neuen Themen in Kontakt gekommen. Es ist wie eine Party mit 100.000 Menschen, die alle noch mal etwas Anderes rein bringen.«

Diversität kann zu Streit führen. Dieser polarisiert, aber unterschiedliche inhaltliche Standpunkte zu vertreten sei gut für den Diskurs, berichtet Politikwissenschaftler Simon Richter. Gefährlich werde es erst, wenn eine Distanzierung nur noch auf der emotionalen Ebene erfolge und Inhalte keine Rolle mehr spielten.

»Diese Art der Polarisierung kann im Kleinen Familien und Freundschaften entzweien und im Großen zur Abkopplung von Gesellschaftsgruppen führen.«

Simon Richter, Soziologe

Oft bleiben Vorteile der digitalen Welt im Schatten der mahnenden Überschriften verborgen – zum Beispiel beim Thema Wahlkampf. Parteien wird die Chance gegeben, viel gezielter vor allem politisch weniger Interessierte anzusprechen. Gleichzeitig gelangen potentielle Wähler*innen über soziale Netzwerke so einfach und schnell wie nie zuvor an vielfältige Informationen. Sie treten in den direkten und intensiven Austausch mit Parteien und Politiker*innen. Digitale Gemeinschaften und soziale Bewegungen entstehen, wie zur EU-Urheberrechtsreform, gefolgt von Fridays For Future. Vor allem die junge Generation nutzt intensiv alle Möglichkeiten off- wie online, um am politischen Prozess zu partizipieren.

Den Vorteilen sozialer Medien stehen zahlreiche, teils berechtigte Kritikpunkte gegenüber. Wer aber ihre generelle Nutzung und Glaubhaftigkeit in Frage stellt, wie das seitens einiger EU-Abgeordneten in Bezug auf die Demonstrationen im Rahmen der EU-Urheberrechtsreform geschehen ist, stellt Fragen, die längst beantwortet sind. Diese neuen Technologien und Kulturräume sind vor allem eins: formbar. 

Laut Christoph Neuberger seien insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien in der Pflicht, faire Diskussionsräume zu schaffen. Sie könnten Diskurse leiten, neue Formen der Partizipation wie Live-Abstimmungen ein größeres und breiteres Publikum einbinden. Wir sollten nicht unsere Kommunikation dem Medium unterordnen, argumentiert er, sondern das Medium so gestalten, dass wir damit eine nach unseren Vorstellungen faire und sinnvolle Kommunikation ermöglichen.

Autor*innen

Johannes Bauer

Politikwissenschaft, Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin,
Twittert als @IamJoBr.

Matthaeus Leidenfrost

Jäger des verlorenen Satzes

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