„Den innersten Menschen hervorbringen“

Anlässlich der Übernahme des Nachlasses von Roger Willemsen in das Archiv der Akademie der Künste wurde nun die Roger-Willemsen-Ausstellung eröffnet. Insa Wilke, Literaturkritikerin und Rechteinhaberin des Nachlasses, moderierte die Podiumsdiskussion mit Wegbegleiter*innen des Künstlers. Annika Böttcher war dabei.

Podiumsdiskussion mit Wegbegleiter*innen des Künstlers anlässlich der Ausstellungseröffnung von Ein Mensch – Ein Ereignis – Ein Glück – Roger Willemsen. Copyright: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

„Als Schriftsteller, Publizist, Essayist, Filmproduzent und Literaturwissenschaftler wurde Roger Willemsen (1955–2016) bekannt, als Fernsehmoderator und auf der Bühne erreichte er ein Massenpublikum“ – das verrät der Flyer zur Veranstaltung. Ein Mensch aber, ein Mensch vor allem, das bezeugen die Gäste des Abends, ist dieser Mann gewesen. „Das Schöne schätzen lernen“, leitete Insa Wilke den Abend ein, habe man an seiner Seite jeden Tag gekonnt.

„Ich glaubte, ihn zu kennen, ich fühlte mich ihm nah“, gesteht auch sein Lektor Jürgen Hosemann vom S. Fischer Verlag, als er von seinem ersten Treffen mit Willemsen berichtet. „Ich bin nach Bonn gefahren und ich reiste mit einer Mängelliste an“, erzählt er. Das Buch Deutschlandreise sollte überarbeitet werden. „Eigentlich eine wenig erfreuliche Ankündigung für einen Autor. Aber er war der Meinung, wer seinen Texten gut täte, täte auch ihm gut.“ In Die Raupe, einer Hommage Willemsens an Hosemann, zeichnet der „Medienmensch“ ein feines, fast zärtliches Porträt ihrer Arbeitsbeziehung nach. Sie haben sich offenkundig gutgetan. Neben dem Enthusiasmus, der mitreißenden Leidenschaft, der eindrucksvollen, intensiven (Bühnen-)Präsenz Willemsens aber hebt Hosemann auch dessen Fleiß und Disziplin hervor. Einen „Arbeiter im Material“ nennt er den, der sich selbst primär immer als Schriftsteller verstanden habe.

„Ich habe das gemacht, was ich auch bei jedem anderen Autor mache: Ich habe ihn, was seine Texte anging, beraten – bei jedem einzelnen Wort. Ich habe seine Bücher an manchen Stellen etwas nüchterner gemacht (denn er hasste zwar das Pathos, aber er hatte starke Gefühle). Eine bestimmte Dunkelheit habe ich ihm gelassen, denn sie gehörte wohl zu ihm.”

Jürgen Hosemann im Interview mit FURIOS

Davon spricht auch Gabriele Radecke. Sie ist Leiterin des Literaturarchivs und erhofft sich durch die Arbeit an den umfangreichen Bestandzuwächsen, „Willemsen im kulturellen Gedächtnis zu verankern“. Schon früh sei dieser, so erläutert sie anhand eines der Notizbücher, die der Materialiensammlung angehören, äußerst professionell in den Bereichen der Literaturkritik und Essayistik aktiv gewesen. Was seine Werke verbindet? 

„Eine bestimmte Form der Einsamkeit, beschrieben als der Zustand, in dem er sich am besten auskennt und den er doch immer hinter sich zu lassen suchte. Eine Mangelerfahrung. Und nicht zuletzt auch immer der Versuch, sich selbst zu verwandeln, vielleicht sogar, sich selbst zu entkommen. Aber das ist nur eine vorsichtige These“, so Hosemann. Am Ende habe da immer ein Mensch gestanden, ein Mensch mit Schwächen und Ängsten.

„Die Grundfrage aller Reisenden: Wo war ich?“ Die Enden der Welt

„Ich war in Duisburg auf einem Filmfestival, 1988. Dort habe ich ihn kennengelernt. Wir diskutierten die halbe Nacht über einen Film, den ich furchtbar fand und er fantastisch. Einig wurden wir uns nicht.“ Nadia Nashir gründete 1992 den Afghanischen Frauenverein e. V. mit, dessen Schirmherr Willemsen ab 2006 war. Eine gemeinsame Reise im vorigen Jahr hatte ihn zu diesem Entschluss bewogen und sollte der Beginn werden für ein unermüdliches Engagement. Nashir, Medienwissenschaftlerin und freiberufliche Journalistin, gibt Einblicke in das aktuelle Nothilfeprogramm des Vereins, das die katastrophale humanitäre Lage des Landes zu verbessern sucht. Willemsen sei bis heute eine große Inspiration: „Wir hätten fast ein Reisebüro eröffnen können“, lacht sie. Alle wollten plötzlich mit dem Afghanischen Frauenverein e. V. verreisen. Der Autor habe ein äußerst differenziertes Bild des Landes in seinen Texten vermittelt und immer das Vertraute im Fremden gesucht. 

„Von 1995 bis 2000 bei Noa Noa, Willemsens Produktionsfirma, und später als seine Assistentin waren wir ständig gemeinsam auf Reisen“, so Julia Wittgens, Vorständin der Roger Willemsen Stiftung. Scheint, als habe sie mehr Glück gehabt als die Anrufer*innen beim Frauenverein. 

Als äußerst unkonventionell beschreibt sie Willemsens Arbeitsstil. „Einmal“, erzählt sie beispielhaft, „hat er jemanden eingestellt, der in seiner Bewerbung stehen hatte: ‚Ich weiß alles über Jodie Foster und Waschbären. Laden Sie mich ein.‘“ Und nach Verlassen des Filmbetriebs habe er ihr ein Empfehlungsschreiben ausgestellt. Fünf Seiten lang. Beim nächsten Bewerbungsgespräch sei sie dann nur gefragt worden, ob sie mit ihm in einem sexuellen Verhältnis gestanden habe. 

Liebenswürdige Erzählungen wie diese gibt es etliche. „Roger hat seine Gäste zum Aufblühen gebracht“, sagt Wittgens noch über die Fernsehsendung Willemsens Woche. Matthias Brandt, Theater- und Filmschauspieler sowie Schriftsteller, stimmt zu: „Er hatte diese Fähigkeit, seine Bühnenpartner*innen leuchten zu lassen.“ 

Denken und Fühlen zugleich

Die fünf auf der Bühne sind sich einig: Willemsen konnte „den innersten Menschen hervorbringen”, eine Formulierung, die er selbst oft nutzte, um die Literatur seines Vorbildes Musil zu beschreiben. Denken und Fühlen zugleich, das sei, was ihn so besonders gemacht habe. Und wo ist jetzt der Haken? „Es gibt keinen”, lacht Julia Wittgens. „Wir haben uns nie gestritten oder waren uns uneins. Außer, als ich bei Noa Noa anfing, da ärgerte es mich manchmal, dass ich so früh aufstehen musste für die Arbeit. Aber dann telefonierten wir kurz und er erzählte, dass er gerade in Wollsocken durchs Wohnzimmer getanzt sei, zu Jazzmusik. Da dachte ich wieder, wenn die andere Seite so enorm produktiv ist, will ich das auch sein.” 

Bei diesen Worten klingt an, was Willemsen in einem Rundfunkbeitrag sagte: Er erklärte, wir dächten, es käme im Leben immer noch etwas hier- oder danach, aber das sei eine Täuschung. Im Moment leben, darauf käme es an. Und das dann gerne auch in Wollsocken. 


Das Roger-Willemsen-Archiv eröffnete mit der Veranstaltung Ein Mensch – Ein Ereignis – Ein Glück. Roger Willemsen” am 18. November 2021 in der Akademie der Künste.

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