leibhaftig

In Religionen geht es nicht nur um den Geist und die Seele. Ob pfingstkirchlicher Gottesdienst oder hinduistische Puja: Der Körper ist mehr als nur ein Instrument religiöser Erfahrung. Ein Essay von Luca Klander über Religion, Körper und kollektive Dynamiken.

Handhaltungen sind Teil vieler religiöser Praktiken. Illustration: Luca Klander

Es ist ein ungewöhnlich heißer Frühlingstag. Die Bäume am Rand der Blaschkoallee spenden kaum Schatten, die Luft steht. Hinter der rotbraunen Ziegelfassade des Neuköllner Bezirksamtes liegt der Sri-Mayurapathy-Murugan-Tempel. Mit den kunstvollen Dachverzierungen und rot-weiß gestreiften Außenwänden wirkt er wie ein Fremdkörper in dieser sonst eher tristen Gegend. Wer durch das Holztor ins Innere des hinduistischen Tempels geht, betritt eine neue Welt. Die Puja, das tägliche Ritual der Götterverehrung, ist in vollem Gange. Dazu kommen eher unerwartete Sinneseindrücke: Mir dröhnt Baulärm mit der surrenden Frequenz eines Zahnbohrers entgegen, dazu beißender Lackgestank. Die Götterstatuen des Tempels werden renoviert.

Bewegende Klänge

Ein Gebet, begleitet von vielen Gesten, dazu in der hinduistischen Glaubensgemeinschaft – das wollte ich erleben. Ein völlig anderes Verständnis von Körperlichkeit, als es unser westlich, christlich geprägtes Religionsverständnis zulässt, kennenlernen. Ungeachtet des Lärms schreitet ein Brahmane von einer zur nächsten Murti. Auf seinem nackten Oberkörper glänzen weiße Farbstriche, er hat ein orangenes Tuch um die Hüften geschlungen. Barfüßig, die langen dunklen Haare zu einem Knoten gebunden, legt er Blütenblätter vor den Götterfiguren Ganeshas, Vishnus und Murugans ab, schwenkt Rauch vor den Statuen, läutet mit der anderen Hand kontinuierlich eine Glocke und singt dabei in einem tiefen Nasalton. Im Lärmteppich der Bohrmaschine geht alles unter. Bis der Handwerker seine Arbeit unterbricht.

Vielleicht habe ich die Worte und das Glockengeräusch schon vorher wahrgenommen, aber erst jetzt entfalten sie ihre ganze Wirkung. Nun hallt sein Gesang in mir wie eine Stimmgabel. Ich spüre, wie er in mir summt. Etwas ist anders. Es ist, als hätte sich der Klang mit meinen Nerven, meiner Haut und meinen Muskeln, sogar mit meinen Knochen verbunden. Als würden die Glockenschläge nicht nur durch die Luft schweben, sondern in mir verankert sein.

Manipulativer Sog der Masse

Ich kenne dieses Gefühl aus der Zeit um meine Konfirmation. Ich besuchte Gottesdienste in einer Pfingstkirche, einer freien Kirchengemeinde mit charismatischer Glaubenspraxis: Gospel statt Orgel; Hipster, kein Talar. Doch unter dem modernen Gewand verbirgt sich trotzdem der gleiche dogmatische Muff von 1000 Jahren. Lobpreise glichen dort professionellen Konzerten. Und in der Menge, die gemeinsam sang, betete und sich im Takt bewegte, entstand eine Eigendynamik, der sich niemand entziehen konnte. Wenn Hunderte Menschen ihre Arme nach vorne streckten, welche auf eine Person im Zentrum des Raumes zuliefen, die gesegnet werden sollte. Oder alle schwiegen.

Ich werde niemals den Anblick des Mannes vergessen, der sich noch Stunden nach dem Gebet lachend auf dem Rücken wälzte. Ein Leiter sagte mir damals, er sei vom Heiligen Geist besetzt und deshalb so euphorisch gewesen. Diese Wirkung hätte ich in anderen Kontexten halluzinogenen Drogen zugeschrieben. Wer noch nie mit derartigen Ritualen in Berührung gekommen ist, muss hier wahrscheinlich schlucken.

Auch für mich entstand ein immer größer werdender Zwiespalt zwischen diesen faszinierenden kollektiven Transzendenzerfahrungen und dem unheimlichen, ja manipulativen Sog der Masse.

Luca Klander

Irgendwann fiel mir auf, wie sich alle Menschen im Raum intuitiv an einen Kodex hielten. Es wurde auf eine bestimmte Art gebetet, sich zur Musik bewegt, Amen gesagt; nämlich ‚Amén!‘ – nicht ‚Aamen‘. Wer sich nicht an die kodierten Bewegungsabläufe hielt, dem fehlte der Zugang zur Gruppenerfahrung mit Gott.

Die Macht der Rituale

Die wahre Macht der Rituale besteht darin, dass sie auf eine Weise dem Glaubensinhalt entsprechen können, wie Sprache es nicht kann. Denn sie erreichen uns unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Zudem kann sich der Mensch nur über seinen Körper ausdrücken – Sprechen ist bei genauerer Betrachtung auch ein physischer Vorgang. Doch schon bevor wir sprechen können, beginnt die Welt der Zwischentöne: Von Beginn an kommunizieren ein Kind und seine Mutter durch ein gestisches Hin und Her. Laut der Psychotherapeutin Bettina Alberti spürt ein Kind, wenn die Mutter die Hand auf ihren Bauch legt, und bewegt sich als Reaktion darauf zuverlässig zur jeweiligen Seite. Durch die frühe Interaktion lernen wir, Gefühle mit Bewegungen zu verbinden. Diese subtilere Art der Kommunikation durch Bewegung wird auch in Praktiken monotheistischer Religionen angewendet, um mit dem ‚himmlischen Vater‘, dem Gott oder der Göttin in Dialog zu treten. 

Eine rhythmische Ebene geht der Sprache und dezidierten Gedanken voraus und durchdringt sie. Demut ist ein Beispiel hierfür: auf die Knie gehen, den Kopf senken, die Augen schließen, die Hände aufeinanderlegen oder -falten – ein Bewegungsablauf, der in vielen Glaubensgemeinschaften praktiziert wird. Der Ablauf illustriert Demut eindrücklicher, als es die rein sprachliche Auseinandersetzung mit dem Wort könnte. Es setzt sich aus ‚dienen‘ und ‚Mut‘ zusammen. Die Essenz des Begriffs zeigt sich allein dadurch, dass sich die Gläubigen in die denkbar unterwürfigste und wehrloseste Haltung begeben, die man sich zur Abwehr von Gefahren und Feinden vorstellen kann. Manchmal ist die Beschäftigung mit den genauen inhaltlichen Bedeutungen religiöser Praktiken auch schlichtweg verwirrend. Wenn Christ*innen sich bekreuzigen, stehen zwei Finger für die Einheit Gott und Mensch. Drei für die Dreifaltigkeit. Der Papst benutzt fünf Finger, keine Ahnung, wieso.

Jüdinnen und Juden legen beim Beten eine Tefillin an, die über ihren Kopf, das Herz und den Arm bis zur Tora verläuft. Sie symbolisiert die geistige, seelische und körperliche Verbindung mit Gott im Gebet. Und macht gleichzeitig den Dualismus zwischen Körper und Geist deutlich, der alle monotheistischen Religionen kennzeichnet. Weil für die Gläubigen die Seele eines Menschen unsterblich ist, wird sie der Vergänglichkeit des Leibes entgegengesetzt. Dadurch entsteht ein Gegensatz, der so in der Biologie und Medizin nicht wiederzufinden ist. Die Trennlinie und Metapher des Körpers als eine Maschine, die durch Anweisungen des Geistes gesteuert wird, wurde mit dem Aufkommen der Erfahrungswissenschaften durchbrochen. Descartes war der erste Philosoph, der das holistische Konzept der ‚verkörperten Person‘ entwarf. Der Mensch, das sei eine Einheit aus biologischem Organismus, Bewusstsein, Emotionen und Handlungen.

Transzendenz

Holistisch, das Ganze betreffend, ist auch die Puja. Der Brahmane umschreitet die Verkörperung Murugans ehrfurchtsvoll. Minutenlang hat er nun gesungen und die goldene Glocke geläutet, ein brennendes Licht vor sie gehalten und der Murti Blüten und Räucherstäbchen dargeboten. Gerade hatte ich mich an den leicht hypnotischen Zustand gewöhnt, der durch die Stimulation aller Sinne entsteht. Dann setzt ein altbekanntes Geräusch ein. Mit dem donnernden Bohrmaschinenlärm werden die fein aufeinander abgestimmten Sinneswahrnehmungen durcheinandergewirbelt. Das Bohrgeräusch, die läutenden Glocken, der Gesang des Brahmanen, dazu der Duft der Räucherstäbchen und Baustaub in der Luft, die bunt bemalten Wände und Murtis im Kerzenlicht. Es sind zu viele Reize, die auf mich treffen. Ich verlasse den Tempel, gehe heraus aus dieser faszinierenden Welt zurück in die Sonne. Was ich im Inneren erlebt habe, muss ich erst einmal nachhallen lassen.

Transzendenz finde ich heute – viele Berliner*innen kennen das – eher auf Konzerten und Tanzflächen. Auch hier entsteht durch die gemeinschaftliche Bewegung zur Musik ein kollektives Glückserlebnis. Ein Moment, den man später mit einem Lied verbindet und niemandem vermitteln kann, der oder die nicht die gleiche Erfahrung machte. Es ist eine Form von körperlicher Erinnerung, von Musik und Energie mit emotionalem Widerhall. Gleiches Prinzip wie in der Kirche, nur dass die Autorität der Musikpriesterpäpste am Altar auf zwei, vielleicht drei Stunden begrenzt ist.


Wir haben uns dazu entschieden in unserem Heft Begrifflichkeiten zu verwenden, die möglichst antidiskriminierend sind. Falls dir ein Begriff oder eine Schreibweise nicht bekannt sein sollte, kannst du die Bedeutung hier nachlesen.

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