“Mit einer Utopie die herrschenden Machtverhältnisse einreißen”

Auf dem Campus gehen die Kritischen Orientierungswochen (KOrFU) zu Ende. Leonard Wunderlich im Gespräch mit Veranstalter*innen über Ziele, Perspektiven, aber auch Kritik gegenüber den KOrFU


Die KOrFU wollen neuen Studierenden bereits zu Beginn ihres Studiums eine kritische Perspektive auf Universität und Gesellschaft eröffnen. Dabei werfen ihr manche eine übersteigerte Radikalität vor. Fotos: unsplash, Montage: Leonard Wunderlich

Was ist der Gedanke hinter den KOrFU?

Henrike: Die KOrFU gab es zum ersten Mal 2013 und finden dieses Jahr also schon zum neunten Mal statt. Schon damals ging es darum, ein alternatives Angebot zu schaffen, Veranstaltungen und Themen anzubieten, die irgendwie nicht nur so langweilige Einführungssachen sind, sondern direkt zum kritischen Austausch anregen. Davor gab es so etwas nicht. 

Judy Alan:  Ich glaube, es gibt einfach viele Studiengänge, in denen dieser kritische Blick auf die Gesellschaft und die Strukturen, in denen wir leben, keinen Platz findet. Gerade das macht die KOrFU aus: der kritische Blick auf die Gesellschaft und den gemeinsamen Austausch. 

Ihr betont immer wieder, dass es euch um kritische Perspektiven auf Wissenschaft und Studium geht? Was bedeutet für euch „kritisch”?

Judy Alan: „Kritisch“ bedeutet vor allem, dass die Strukturen, in denen wir leben und die ganz oft einfach als Status quo unhinterfragt bleiben, in unseren Veranstaltungen thematisiert und hinterfragt werden. Dass wir diese Strukturen analysieren und versuchen, sie aufzubrechen.  

Henrike: Es geht darum, den Status quo in Frage zu stellen und dabei einen ganz klar anti-diskriminierenden Anspruch zu haben. Und häufig ist ja der erste Schritt, darüber aufzuklären, was alles passiert und was man entsprechend dagegen tun kann. Unsere Veranstaltungen leisten Bildungsarbeit zu Anti-Rassismus, Anti-Queerfeindlichkeit und Antisexismus. Wir versuchen sichtbar zu machen, wie viel Arbeit in diesen Bereichen bereits geleistet wird, und dass darin die Kritik an den herrschenden Zuständen stattfindet. Wir wollen deutlich machen: Es passiert so viel Mist und dagegen könnte man mal etwas unternehmen. 

Kommen traditionell linke bzw. kritische Positionen, Ansätze und Analysen in Lehrveranstaltungen zu kurz?

Judy Alan: Auf jeden Fall. Es hängt natürlich auch total vom Studiengang ab. Ich kann nur für mein Fach Psychologie sprechen. Und da kommen diese auf jeden Fall viel zu kurz. 

Henrike: Die KOrFU sind auch immer ein Angebot, um zum Anfang des Semesters daran erinnert zu werden, dass man sich nicht nur auf sein eigenes Fachgebiet beschränken muss, sondern es darüber hinaus Sachen gibt, die auch wichtig sind. Aber so wie das Studium im Moment funktioniert, ist das natürlich schwierig. 

Inwiefern?

Henrike: Ich habe das Gefühl, dass Lehrpläne und Beschränkungen durch Regelstudienzeit und BAföG es schwerer machen, sich neben dem eigentlichen Studium fachlich noch mit anderen Sachen zu befassen. 

Judy Alan: Es gibt echt so viele Fächer und Themen, die mich interessieren, zu denen ich total Lust hätte, Seminare und Veranstaltungen zu besuchen und ganz viel darüber zu lernen. Aber wie soll ich das neben Lohnarbeit und meinem eigentlichen Studium schaffen?

Euch wurde etwa von anderen Hochschulgruppen immer wieder der Vorwurf gemacht, mit den KOrFU neue Studierende indoktrinieren zu wollen, ihnen linke Ideologie aufzuerlegen, bevor sie überhaupt richtig an der Uni angekommen sind. Wie reagiert ihr auf diesen Vorwurf?

Henrike: Also ich glaube, grundsätzlich kommen alle Menschen, die hier vorbeikommen, freiwillig her. Niemand wird gezwungen, und die meisten bringen schon ein gewisses Grundinteresse mit. Außerdem können sich Menschen ja auch kritisch wiederum mit unseren Veranstaltungen auseinandersetzen, sodass ich den Vorwurf der Indoktrination ein bisschen übertrieben finde. Ich glaube auch, er rückt uns in eine Machtposition, die wir nicht unbedingt innehaben, weil es ja nicht so ist, dass 5.000 Erstis hier durchlaufen und wir sie alle das Kommunistische Manifest auswendig lernen lassen. 

Judy Alan: Und generell dieser Ideologiebegriff: Bei allem steht irgendwie eine Ideologie dahinter und ja, unsere Ideologie ist dann halt links. Aber die Uni hat genauso eine Ideologie, die indoktriniert wird. 

Was meint ihr mit der Ideologie der Uni?

Judy Alan: Hinter allem steckt irgendeine Ideologie. Bei der Uni ist es zum Beispiel die Ideologie des Kapitalismus. Also dass wir alle schnell unser Studium fertigbekommen sollen und das doch bitte in Regelstudienzeit, sodass wir alle schnell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – ja und einfach so krass neoliberale Werte, die die Uni vertritt. Und so zu tun, als wäre irgendein Ort ideologiefrei, stimmt halt einfach nicht. Und dann wird dieser Begriff der Ideologie auch nur Sachen oder Veranstaltungen aufgedrängt, die von den eigenen Normvorstellungen abweichen. 

Mal provokant gefragt: Könnten die KOrFU, auch wenn die Leute selbstverständlich freiwillig und viele bereits mit einem gewissen Grundinteresse kommen, als eine Art „Radikalisiererin“ wirken?

Judy Alan: Wir wollen natürlich, dass Leute kritischer werden. Irgendwie ist das ja ein Weg, mit einer Utopie die herrschenden Machtverhältnisse einzureißen. Das ist, was wir wollen. 

Henrike: Ich finde es großartig, wenn Menschen herkommen und sich einen Vortrag über Queerfeindlichkeit anhören und danach realisieren, dass so viele Dinge schlecht laufen oder sich dazu entschließen, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun. Oder wenn sie sich danach zum Beispiel mehr für zivile Seenotrettung einsetzen oder sie dann in ihre Hochschulgruppe gehen und Hochschulpolitik machen. Der Begriff „Radikalisierung” ist vor allem in der Dominanzkultur sehr negativ belegt. Aber ich fände es großartig, wenn hier wieder mehr Studis durch die Uni gehen, die nicht mit allem einverstanden sind, was passiert.

Autor*in

Leonard Wunderlich

Hat den leisen Verdacht, dass Hochschulpolitik doch irgendwo nicht völlig unwichtig ist.

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