Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten: Gemütszustand Mexiko

Mit Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten hat Alejandro González Iñárritu einen extravaganten Bilderzirkus kreiert. Was der skurril anmutende Netflix-Streifen zu bieten hat, verrät Oliver Koch.

Die Konfrontation mit sich selbst: Silverio in der Wüste. Copyright: © Netflix / Limbo Films

In einem Krankenhaus kommt ein Kind zur Welt. Noch vor dem Kappen der Nabelschnur flüstert es dem Arzt zu, dass es wieder zurück möchte, weil die Welt am Abgrund stehe. Prompt wird der Neugeborene wieder in den Unterleib der Mutter gepresst und spätestens wenn in der nächsten Szene in den Nachrichten darüber berichtet wird, dass Amazon den mexikanischen Staat Baja California gekauft hat, ereilt uns die Erkenntnis: Der neuste Film von Alejandro González Iñárritu spielt sich jenseits jeder Wirklichkeit ab. 

Mit Bardo hat der zweifache Oscarpreisträger einen surrealistischen Mix aus Drama und Komödie inszeniert, der einem konzeptionellen LSD-Trip gleicht. Als ein aus Manierismen und visuellen Metaphern konstruierter Bilderrausch zieht das 160-minütige Werk sein Publikum in einen transzendentalen Raum, der sich als wahres Knobelkabinett entpuppt. 

Episodenhaftes Straucheln

Im Mittelpunkt dieses eklatanten Bilderdschungels steht der in die Jahre gekommene Silverio Gacho, der wie ein moderner Odysseus durch eine Folge fließend ineinandergreifender, thematisch jedoch teils unabhängiger Szenen, stolpert. In einem Moment sehen wir den Protagonisten ekstatisch auf einer Feier zu seinen Ehren das Tanzbein schwingen, bevor er dem Trubel entrinnt und sich auf die Toilette schleicht. Dort trifft er auf seinen verstorbenen Vater und wird – im wahrsten Sinne des Wortes – wieder zum kleinen Jungspund, nur der Kopf bleibt der des erwachsenen Silverios. Nach einem emotionalen Gespräch zwischen Vater und seltsam proportionierten Sohn, betritt Silverio die Dunkelheit und strauchelt in die nächste Episode des unerklärlichen Astralreichs, das der Film als sein Leben entwirft. 

Durch dieses ominöse Bilderspektakel und die fließenden Übergänge fühlt sich Bardo wie eine Trance an, deren kryptische Sprache es zu entschlüsseln gilt. Wenn Silverio etwa während eines Talkshowauftritts die Fähigkeit zu sprechen verliert und vor dem anwesenden Publikum buchstäblich verstummt, lässt einen das erst einmal stutzig im Kinosessel zurück. Der Moderator hält die Stille zunächst für einen technischen Patzer, doch dann reißt er die Show an sich und fällt mit zahlreichen Vorwürfen über Silverio her, gegen die er sich nicht wehren kann. Unter dem Deckmantel des Surrealen wird hier die heutige Diskurspraktik kritisiert, nach dem Motto: Der Monolog ist die beste Art zu diskutieren. Dass die unerklärlichen Ereignisse aber nicht immer zwingend einer Erklärung bedürfen, macht uns der Film spätestens klar, wenn Silverios Tochter Lucia ihrem alten Herrn vorwirft: „Du versuchst immer alles zu erklären. Manche Dinge sind einfach das, was sie sind.“ 

Entblößter Existentialismus   

Als in den USA sowie Mexiko gefeierter Journalist und Dokumentarfilmer sucht Silverio in erster Linie nach Erfahrungen, die das Gefühl der Verlegenheit auf der Welt zu sein zumindest für einen Augenblick betäubt. Wie in den meisten Werken von Iñárritu wird hier das Porträt einer Figur gezeichnet, die in ihrer Egomanie zu ertrinken droht. So beschwert sich der Protagonist bei seiner Frau, dass er sich nach der Anerkennung seiner Mitmenschen sehne, ihm die Meinung dieser aber eigentlich egal sei, weil sie allesamt widerwertige Heuchler*innen seien. In Bardo erklingt demnach immer wieder das altbekannte Klagelied vom Menschen, der sich sehnlichst das wünscht, was er nicht haben kann und der sofort wieder das Interesse daran verliert, wenn er es schließlich doch bekommt.

Was wie eine Abfolge von äußerst melancholischen oder gar nihilistischen Episoden klingen mag, erweist sich letztendlich jedoch als Kino großer Schaffenskraft. Bardo erzählt mit seinem facettenreichen Spektrum vom Menschen, seinen Erfolgen und Verlusten sowie seinem Bestreben, immer wieder die eigenen Grenzen zu überschreiten. Mit der existentialistischen Perspektive demonstriert uns Iñárritu das tiefgründige Einfühlungsvermögen cineastischer Poesie und verwebt Fragen nach dem Verständnis von Identität, Heimat und weiteren kolossalen Themen unserer Zeit mit seiner surrealen Narration. Die von Wärme durchzogene Ästhetik formt einen eskapistischen Schleier, der die Trübseligkeit überlagert und uns trotz all dem Pessimismus letztendlich mit einer überaus euphorischen Note entlässt: „Das Leben ist bloß eine Serie von idiotischen Bildern“, gibt Silverio wehleidig kund – doch am Ende liegt es an uns, was wir aus diesen Bildern machen.


„Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ startet am 16. Dezember 2022 auf Netflix. Zuvor zeigen ausgewählte Kinos den Film zudem auf der großen Leinwand.

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