Die Orte, an denen meine Träume wohnen von Felwine Sarr – ein multidimensionales Gesamtpaket

Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Samuel-Fischer-Gastprofessur fand am vergangenen Montag, den 22. Mai, ein Gespräch mit dem senegalesischen Autor und Musiker Felwine Sarr über seinen zuletzt erschienenen Roman Die Orte, an denen meine Träume wohnen statt. Der Veranstaltungsort war das Literarische Colloquium Berlin am Wannsee. Julie Rechenberg berichtet.

Werbeplakat für die Veranstaltung

Ein Abend am Wannsee   

Die Sonne blendet, während sich nach und nach die Zuschauerreihen mit Blick auf den Wannsee füllen. Die Bühne ist noch leer. Nur ein Mann tritt mehrmals ans Mikro, um die Zuschauer:innen, die kein Französisch sprechen, daran zu erinnern, sich die nötigen Kopfhörer zu besorgen, um durch diese das Gespräch mit der deutschen Übersetzung mitzuverfolgen. Vor den Zuschauerreihen wuseln noch einige Personen, die für die Organisation und den Ablauf der Veranstaltung verantwortlich sind, umher. Man sieht, wie sie sich begrüßen, sich fröhlich umarmen und miteinander tuscheln. 

Dann tut sich endlich etwas. Der Präsident der Freien Universität, Professor Günter M. Ziegler, tritt auf die Bühne und begrüßt alle Anwesenden mit einer Anrede, in der er unter anderem über die Samuel-Fischer-Gastprofessur spricht und sich bei allen bedankt, die diese Veranstaltung möglich gemacht haben. Nachdem er wieder Platz genommen hat, treten drei andere Personen auf die Bühne: der Autor und Musiker Felwine Sarr, Raphaëlle Efoui-Delplanque, die Moderatorin der Veranstaltung, die unter dem Namen Raphaëlle Red selbst als Autorin tätig ist, und der Schauspieler Langston Uibel, der einige Textauszüge vorlesen wird.

Zu Beginn des Gesprächs stellt Raphaëlle Efoui-Delplanque den Autor und Musiker und einige seiner Werke vor. Daraufhin gibt Felwine Sarr eine kleine Kostprobe seines musikalischen Könnens und singt mit kräftiger, aber auch sanfter Stimme, zwei seiner Lieder auf Wolof und Englisch.

Der Romantitel als Leitmotiv

Nach dieser Gesangseinlage wird Felwine Sarr von der Moderatorin zu der Titelgebung seines Romans befragt, der im französischen Original den Titel Les lieux qu’habitent mes rêves trägt. Tatsächlich stand der Titel schon vor dem Roman selbst fest – was in seinem Schreiben eine Seltenheit ist – und zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text. Er spricht von einer unité du sens, also einer Einheit des Sinnes in jedem Kapitel, was bedeutet, dass jedes Kapitel für sich selbst gelesen werden kann. Außerdem enthüllt er auch die Bedeutung seines Romantitels. Dass er sich dafür entschieden hat, im Titel nicht nur von einem Ort zu sprechen, soll die Pluralität der Orte, der Stimmen und der Perspektiven, die im Roman gezeigt werden, repräsentieren.

Polyphonie und Pluralität als Kernbegriffe 

Tatsächlich handelt es sich um einen polyphonen Roman, der aus den Perspektiven unterschiedlicher Personen berichtet, die sich ihrerseits auch an unterschiedlichen Orten aufhalten. Diese Orte und Geschichten sind aber trotzdem miteinander verbunden und treffen immer wieder aufeinander: 

Da wären zum Beispiel die senegalesischen Zwillingsbrüder Fodé und Bouhel, die völlig unterschiedliche Lebenswege einschlagen. Während Fodé sich nach dem Tod des Initiationsmeisters Ngof auf seine spirituelle Entwicklung konzentriert, macht Bouhel sich auf den Weg nach Europa, um in Frankreich zu studieren. Dort beginnt die Liebesgeschichte zwischen ihm und der polnischen Studentin Ulga, was Bouhel nach Warschau führt, wo er ihre Familie kennenlernt. Die Handlung nimmt eine dramatische Wendung, als Bouhel aufgrund eines schlimmen Verdachts im Gefängnis landet. Trotz der geographischen Distanz versucht Fodé seinem Bruder, mittels spiritueller Praktiken, zur Hilfe zu eilen. In seinen Ausführungen lässt Felwine Sarr aber vieles über die Handlung und die Figuren offen, was die Zuhörenden noch neugieriger auf den Roman macht. Auch die ausgewählten Textauszüge – unter anderem einer, der die Handlung rund um die Situation Bouhels im Gefängnis beschreibt – tragen dazu bei und illustrieren außerdem die Pluralität der Orte, Stimmen und Perspektiven, die von Sarr angesprochen wurde. 

Im Gespräch bezeichnet Felwine Sarr seinen Roman außerdem als eine Art Liebesroman, der die Polyphonie der Liebe aufzeigt. In seinem Buch liegt der Fokus nämlich nicht bloß auf der romantischen Liebe, wie man es von einem klassischen Liebesroman erwarten würde, sondern es werden beispielsweise auch die brüderliche und die freundschaftliche Liebe hervorgehoben. 

Leben in der Literatur

Abgesehen von den realen Orten, die Felwine Sarr anspricht, teilt er außerdem noch sein tiefer gehendes Verständnis davon, was Orte sein können. Ein Beispiel ist für ihn die Literatur, die ebenfalls ein Ort ist, in dem man leben kann. Das Lesen und Schreiben stellt für ihn nämlich eine Art und Weise dar, zu wohnen und sich zu bewegen. Dazu ist für ihn die Literatur, insbesondere sein Roman, ein Weg, um Orte darzustellen und zu besuchen, an denen man selbst nicht war. Er spricht hier von lieux imaginaires.

Ein Anliegen Felwine Sarrs ist es, den jüngeren afrikanischen Generationen die savoirs ancestraux africains – also die afrikanische Spiritualität – näherzubringen und sie daran zu erinnern, damit sie nicht verloren geht und dazu auch noch reaktiviert wird.

Insgesamt zeichnet diese Veranstaltung ein sehr interessantes, tiefgründiges und perspektivenreiches Bild des neuesten Romans Felwine Sarrs und lädt zum Lesen ein. Ich würde außerdem empfehlen, den Roman auf Französisch zu lesen, wenn man die nötigen Sprachkenntnisse hat oder sie erweitern möchte, da Felwine Sarrs Schreibstil einen sehr eigenen Rhythmus hat. Tatsächlich kann er auch keine Texte von anderen Personen lesen, ohne die Satzzeichen so zu verändern, dass die Sätze seinem eigenen Rhythmus entsprechen.

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